Der Freitag: Herr Schlageter, man hört unter Eltern oft den Satz: „Jungs sind halt schwieriger als Mädchen.“ Stimmt das?
Holger Schlageter: Es kommt darauf an, was gemeint ist. Grundsätzlich sind ja die Eltern die Bewerter ihrer Kinder – die Kinder beurteilen sich nicht selbst. Insofern ist es schon mal eine Frage der Perspektive. Was mit dem Satz meistens gemeint ist: Jungs haben aufgrund bestimmter Prägungen einen stärkeren Bewegungsdrang, lassen sich schneller ablenken, gehen an Situationen aggressiver ran, sind oft lauter. Also: Sie sind vielleicht schwieriger zu kontrollieren.
Es geht um Kontrolle?
Bei uns werden Kinder als angenehm empfunden, wenn sie ruhig und artig sind. Die Gesellschaft hat dieses Verhalten als erstrebenswert definiert. Kind
uns werden Kinder als angenehm empfunden, wenn sie ruhig und artig sind. Die Gesellschaft hat dieses Verhalten als erstrebenswert definiert. Kindheit an sich ist dabei ein historisch relativ junges Phänomen, das es so erst seit etwa 100 Jahren gibt. Vorher hat man Kinder als kleine Erwachsene angesehen und sich weitgehend selbst überlassen. Diese Definition des Kontrollierten als Erstrebenswertes zeigt auch, dass wir heute in einer Kultur leben, die mit Aggression nicht gut umgehen kann.Sind Jungs von Natur aus aggressiver?Sie haben im statistischen Vergleich mehr Testosteron im Blut – und Testosteron macht aggressiver. Das ist aber der einzige biologische Unterschied zwischen den Geschlechtern. Alles andere ist gelerntes Verhalten. Jungs werden von Erwachsenen dazu ermutigt, laut und aktiv zu sein. Als mädchenhaftes Verhalten wird hingegen eher das Bravsein angesehen. Oft ganz unbewusst benehmen sich Erwachsene schon bei Säuglingen gegenüber Mädchen anders als gegenüber Jungen. Das lässt sich mit zahlreichen Studien gut belegen.In der Erziehungsliteratur gibt es eine Unmenge an Spezialratgebern für schwierige Jungs.Es gibt Jungs, die legen schon früh alle Stereotype an den Tag, die eigentlich Mädchen zugeschrieben werden – und umgekehrt. Am Anfang sind das einfach individuelle Unterschiede der Kinder. Aber ab einer gewissen Sozialisierung zeigt sich das angelernte Rollenverhalten entlang der Geschlechtergrenzen. Und dann ist es so, dass spezifische Stärken und auch spezifische Probleme mit diesem Verhalten einhergehen. Da kann es dann sinnvoll sein, die Erziehung anzupassen.Was meinen Sie mit spezifischen Stärken und Problemen?Bei dem geschlechterrollentypischen Verhalten können Jungs sich gut durchsetzen, sie können sich gut abgrenzen und Nein sagen. Sie haben aber oft auch das Problem, dass sie nur das können, nichts anderes. Dass sie in Konflikten deswegen körperlich aggressiv werden, zum Jähzorn neigen. Dann haben wir durch die Sozialisation Jungs geschaffen, die nun wieder lernen müssen, dass ein anderes Konfliktverhalten von der Gesellschaft gewünscht wird.Aber schreibt man durch eine spezielle Jungenerziehung Geschlechterstereotype nicht immer weiter fort?Das ist in der Tat eine Gefahr. Sprache schafft ja auch Bewusstsein. Ich würde zum Beispiel nie sagen: „Das ist ein Jungen-Kurs.“ Besser wäre zu sagen: „Das ist ein Kurs für Kinder, die lernen wollen, mit Aggressionen anders umzugehen.“ Wenn da auch Mädchen drinsäßen, wäre dies das Beste, um solchen Stereotypen entgegenzuwirken.Was halten Sie von Cross-Gendererziehung – also Mädchen einen Werkzeugkasten zu kaufen und Jungs Puppen?Ich bin dagegen, stumpf ein festes Programm abzufahren – also einem Kind, nur weil es ein Mädchen ist, immer Autos zum Spielen zu geben. Da bestimmen Stereotype, gegen die man eigentlich kämpfen will, schon wieder die Erziehung. Man sollte Kindern so viele Angebote wie möglich machen – und sie selbst aussuchen lassen, mit was sie spielen wollen.Welche Bedeutung hat das Rollenverhalten der Eltern?Eine extrem große. Wobei gilt: Je unbewusster das Verhalten ist, desto mehr Macht entfalten Stereotype. Wenn ich als Vater weiß, ich neige dazu, aufgrund geschlechttypischer Stereotype meinem Kind bestimmte Dinge zu erlauben, andere zu verbieten, dann kann ich darauf achten und bewusst dagegen vorgehen. Wenn ich es nicht weiß, mache ich auch nichts dagegen.Wiederholen wir in der Erziehung eigentlich immer das, was wir selbst als Kinder im Elternhaus erlebt haben?Zu einem großen Teil und dabei gilt: Auge geht über Ohr. Das heißt: Was wir gesehen und erlebt haben, ist einprägsamer als das, was uns gesagt wurde. Wenn die Eltern zu ihrem Kind sagen: „Du musst lieb sein, darfst dich nicht streiten und musst teilen.“ Und sie selbst gehen sich jeden Abend beim Streiten an die Gurgel, dann übernimmt das Kind dieses erlebte Konfliktverhalten und nicht das, was verbal propagiert wurde.Trotz Vätermonaten und gesellschaftlicher Veränderungen verbringen Mütter meist immer noch viel mehr Zeit mit den Kindern. Ist ein abwesender Vater für Jungen schwieriger?Das ist vielleicht suboptimal. Aber das sind oft auch Vater und Mutter in ihrer gemeinsamen Erziehung. In bestimmten Altersstufen orientieren sich Kinder am eigenen Geschlecht, in anderen am anderen Geschlecht. Idealerweise hat man Vorbilder aus beiden Geschlechtern. Das ist aber nicht das Entscheidende.Sondern?Ungleich wichtiger, als die Frage, wer erzieht, ist die Qualität der Beziehung zum Erziehenden. Es ist viel besser nur weibliche, das Kind liebende Bezugspersonen zu haben als einen Vater, der emotional ein Eisklotz ist.Das Gespräch führte Jan Pfaff