Interview Der Sozialpsychologe Oliver Decker warnt vor einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft. Terrorangst könnte als Begründung für ausgelebte Aggressionen dienen
Wird mit Angst demnächst noch mehr Politik gemacht?
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der Freitag: Herr Decker, es gibt Stimmen, die empfehlen, auf die Anschläge mit einer Kultur der Gleichgültigkeit zu reagieren. Weil Ängste und scharfe Gegenreaktionen im Kalkül der Terroristen lägen, sollte man ihnen diesen Triumph keinesfalls gönnen.
Oliver Decker: Diese Ratschläge zielen wohl vor allem auf die politischen Entscheidungsträger. Und zwar vor dem Hintergrund der Reaktionen des damaligen US-Präsidenten George W. Bush auf 9/11, die zu einer weiteren Eskalation geführt haben. So etwas zu wiederholen wäre sehr unklug. Ich denke, es geht nicht so sehr darum, einen Appell an alle Menschen zu richten, jetzt Affektisolation zu betreiben. Hektisches Verhalten ist aber genauso wenig eine Lösung wie manisch verleugnendes.
Was m
rhalten ist aber genauso wenig eine Lösung wie manisch verleugnendes.Was meinen Sie mit „manisch verleugnend“?Man kann auf die Erfahrung einer Hilflosigkeitssituation auch mit dem Versuch des Ungeschehenmachens antworten, indem man sehr stark reagiert, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, welche Hilflosigkeit man erfahren hat.Wenn man die Anschläge wie ein Unglück behandeln würde, bei dem es aufgrund von technischem Versagen die selbe Zahl an Todesopfern gibt – dann würde man versuchen, nicht hektisch zu reagieren, sondern sich Zeit zu nehmen und bedacht vorzugehen.Das ist richtig. Aus sozialpsychologischer Sicht haben wir hier einen wesentlichen Punkt: Krisen existieren nur, wenn es Menschen gibt, die sie als solche wahrnehmen. Es gibt keine objektiven Krisen. Eine Krise ist dann gegeben, wenn eine entsprechende Anzahl Gesellschaftsmitglieder ein Ereignis als bestandsbedrohend oder gefährdend begreift. Die Bewertung ist das Entscheidende.Haben Sie ein Beispiel, wo die Bewertung anders ausfiel?Nehmen wir einen anderen Fall von Terrorismus, die Attentate des NSU. Diese wurden lange gar nicht als Terrorismus wahrgenommen. Das liegt aber nicht daran, dass man die Ereignisse mit ihrem rassistischen Hintergrund nicht damals schon als Rechtsterrorismus hätte begreifen können. Es war aber offensichtlich nicht möglich, sie so wahrzunehmen – aus Gründen, die in der Gegenwartsgesellschaft selbst zu suchen sind. Dementsprechend wurden bisher kaum Konsequenzen gefordert.Würden Sie dann sagen, dass den Anschlägen von Paris zu viel Aufmerksamkeit zugemessen wird?Nein, wir haben es in der Tat mit einem einschneidenden Erlebnis zu tun. Im Kern geht es um ein Problem, das wir schon länger kennen: die nachlassende Legitimationskraft der modernen westeuropäischen Gesellschaften in verschiedene Richtungen. Das gilt zum einen für Rassisten und Rechtsextreme, deren Zahl zunimmt. Und das gilt genauso für die Radikalisierung von Muslimen, denn man darf nicht vergessen, dass erst seit Ende des 20. Jahrhunderts politische Bewegungen sich auf einen Islam als politische Ideologie beziehen. So wenig Fundamentalismus eine islamische Erfindung ist, so wenig sind Radikalisierungen des Islams ohne ein Gegenüber zu verstehen: die westlichen Industrienationen. Eine große Gefahr ist, dass rassistische Stereotype die Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen unmöglich machen.Placeholder infobox-1Kann eine Demokratie zu viel Angst haben?Eine Demokratie lebt vom öffentlichen Austausch und vor allem davon, die Interessen des Gegenübers wahrzunehmen und zu verstehen. Die Anerkennung des Anderen und seiner Interessen ist essenziell. Wenn Angst zum Rückzug aus diesem Aushandlungsprozess führt, oder es zum Abbruch des Gesprächs kommt, weil man dem anderen nichts mehr glaubt – Stichwort Lügenpresse –, ist das für demokratische Prozesse fatal. In der Regel wird die Demokratie aber nicht durch zu viel Angst bedroht, sondern dadurch, dass die Berechtigung des Anderen, in den Aushandlungsprozess zu gehen, nicht mehr anerkannt wird. Wenn Fremde und Andere nicht mehr anerkannt werden, dann hat das auch eine Innenseite: Die Gesellschaft wird zur Gemeinschaft, die ihre internen Differenzen nicht mehr wahrnimmt, weil etwa „wir in Deutschland“ uns gegen die „Fremden“ schützen müssen.Also diese Kriegsrhetorik, bei der jeder Widerspruch als Defätismus abgetan wird ...Genau. Diese Rede nimmt eine Gemeinschaft an, die in sich homogen ist. Und die sich gegen eine von außen kommende Bedrohung abgrenzen muss. Das hat auch etwas sehr Ethnozentristisches.Hilft es da, zu zeigen, dass es nicht um „den Islam“ geht, sondern dass es sich beim IS um eine spezifische islamistische Gruppe handelt?Natürlich ist es wichtig klarzumachen, dass Muslime ganz unterschiedliche Menschen sind, die sich über viele verschiedene Dinge identifizieren. Und die schon gar nicht alle radikalisierte Islamisten sind. Mit dem Finger auf den IS zu zeigen, kann aber auch Entlastungsstrategie sein, weil gesellschaftliche Konflikte so individualisiert und ethnisiert werden. Dann wird die Frage, warum sich Menschen aus unserer Mitte radikalisieren, gar nicht mehr gestellt.Jetzt jemandem, der Angst vor Anschlägen hat, zu sagen, die Wahrscheinlichkeit, vom Auto überfahren zu werden, ist ungleich größer, hilft ihm aber nicht wirklich, oder?Stimmt. Wenn jemand diese Angst hat, hat er sie ja nicht, weil er ein Informationsdefizit hat, also ihm etwa die Information über die statistische Wahrscheinlichkeit fehlt. Da spielen andere Faktoren eine Rolle. Es gibt eine psychologische Theorie, die davon ausgeht, dass Menschen, die ihr kulturelles Referenzsystem bedroht sehen, diese Bedrohung als sehr viel stärker wahrnehmen, als wenn sie nur sich selbst als Person in Gefahr sehen. Und zwar, weil auch die Gegenwartsgesellschaft etwas aufbietet, was jedem Einzelnen so etwas wie Transzendenz bietet. Das Aufgehobensein in einem größeren Ganzen. Wenn dieser Rahmen als bedroht wahrgenommen wird, erscheint die Bedrohung umso größer.Was macht es mit uns, wenn nun Polizisten mit Maschinengewehren Bahnhöfe oder Weihnachtsmärkte schützen? Eigentlich bekommt man doch erst Angst, wenn man sie da mit den Waffen sieht.Im Prinzip ist das wie mit dem Notausgangsschild in öffentlichen Räumen. Die Katastrophe ist dadurch in der Vorstellung immer schon präsent. Die Polizisten mit der entsprechenden Ausrüstung auf dem Bahnhof rufen in Erinnerung, in welcher Lage man sich befindet – und das kann Ängste auslösen. Gleichzeitig symbolisieren sie die Vorstellung von Schutz. Es ist also ambivalent. Die Waffe allein wird aber nicht für ein ständiges Bedrohungsgefühl sorgen. Das hängt von weiteren Umgebungsfaktoren ab.Da gibt es noch Äußerungen wie diejenige von Innenminister Thomas de Maizière nach dem abgesagten Fußballspiel, er könne zu den Gründen nichts sagen, „ein Teil der Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“.Wenn man sich diesen Satz genau anschaut, bedeutet er, dass ein hohes Bedrohungspotenzial da ist. Und zwar eines, von dem der Sprechende annimmt, dass es sein Gegenüber sehr ängstigen würde. Die Intransparenz hat dabei den Effekt, Angst zu machen. Die Äußerung war entweder sehr unbedacht. Oder mit dem Satz soll Politik gemacht werden. Und da scheint mir die Zielrichtung zu sein, die Fiktion einer guten Autorität zu schaffen, die sagt: „Beruhigt euch, ich sorge mich für euch.“ Wir sollen uns auf starke Hände verlassen, die uns durch die Dunkelheit führen. Das hat mit Demokratie aber nur noch wenig zu tun.Wird mit Angst demnächst noch mehr Politik gemacht?Ich befürchte eher, dass mit Aggressionen Politik gemacht wird – und dass die Angst vor einer Bedrohung von außen als Begründung herangezogen wird. Was wir in den vergangenen Monaten gesehen haben, waren zunehmende Artikulationen von völkischen, rassistischen Aggressionen. Sorgen kann man sich ja zu Recht machen. Wir wissen, dass wir mit weiteren Flüchtlingsbewegungen rechnen müssen. Wir wissen auch, dass schlechte Lebensbedingungen Menschen nicht dazu bringen, besonders edel und tolerant zu werden.Wie meinen Sie das?Ich denke an Menschen, die in Bürgerkriegsgegenden schon seit Jahren unter unsäglichen Bedingungen leben. Da kann man sich sorgen, dass sie nicht die Bedingungen kennen, die es für ein demokratisches Gemeinwesen braucht. Und man kann sich sorgen, wie das die europäischen Gesellschaften verändert. Wir haben in der Tat eine Situation, in der an dem Fundament der Demokratie gearbeitet werden muss. Aber auch durch die Menschen, die bereits hier sind. Das hat nichts damit zu tun, ob man zum „Volk“ gehört oder nicht. Also: Was berechtigt ist, sind Sorgen. Was ein Problem ist, sind autoritäre Aggressionen.Es wirkt so, als ob dabei auch Kategorien wie konservativ und progressiv, links und rechts durcheinandergeraten.Alte Denkgewohnheiten werden in Frage gestellt. Zum Beispiel sehen wir, dass das Handeln von Angela Merkel in einigen Punkten von einem bürgerlichen Humanismus getragen ist. Sie setzt sich deutlich ab davon, was einige CDU-Vertreter lange gemacht haben. Auf der linksliberalen Seite haben wir eine Sprachlosigkeit. Und dann ist da die Gefahr, dass Kritik an Religion mitunter einen antimuslimischen Drall kriegt. Kritik der Religion ist aber ein zentrales Moment von Aufklärung, Religionsfreiheit heißt zuallererst Freiheit von Religion. Daran gilt es festzuhalten.Wie werden die Anschläge die Gesellschaft verändern?Ich gehe davon aus, dass sich die Abwertung von Muslimen verfestigen wird. Und dass es zu einer stärkeren Polarisierung kommt. Wir beobachten in unseren Erhebungen seit Jahren, dass die Artikulation von vorurteilsbehafteten, antidemokratischen Positionen gegen Asylbewerber und Muslime stärker hervortritt. In der Mitte der Gesellschaft wurde schon lange rassistisch gedacht, man hat aber selten so gehandelt. Das hat sich verändert. Viele haben erfahren, dass sie nicht allein sind mit diesen Positionen. In der Mitte bildet sich eine kritische Masse von Menschen, die antidemokratische, vorurteilsbehaftete Positionen haben. Die sehen sich durch die Ereignisse jetzt noch zusätzlich bestätigt.Placeholder link-1Placeholder link-2Placeholder link-3
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