Lasst uns über Fußball reden

EM Eine Wahnsinnsrettung von Jerome Boateng, und eine Erinnerung: Warum man spektakuläre Fußballaktionen nicht auf die Streckbank der politischen Debatte legen sollte
Einer dieser raren Momente, in denen Fußball sich in eine Kunstform verwandelt
Einer dieser raren Momente, in denen Fußball sich in eine Kunstform verwandelt

Foto: Denis Charlet/AFP/Getty Images

Um das erst noch mal festzuhalten: Die Rettungsaktion von Jerome Boateng in der 36. Minute im EM-Spiel der deutschen Mannschaft gegen die Ukraine war ganz groß. Einer diesen raren Momente, in denen Fußball sich von einer Sportart in etwas anderes verwandelt, in eine eigene Kunstform. Wie Boateng den Ball vom Oberschenkel erst in vollem Lauf in Richtung des eigenen, leeren Tors lenkt; es ihm dann gelingt, sich trotz seiner Geschwindigkeit, um die eigene Achse zu drehen – und er im Rückwärtsfallen den Ball auf Höhe der Torlinie wegkickt, wird nicht nur hierzulande, sondern auch vom internationalen Fußballpublikum als "beste Rettungsaktion, die wir je gesehen haben" gefeiert. Völlig zu Recht.

Dabei könnte man es bewenden lassen, und die Szene zusammen mit den restlichen Highlights des Spiels – dem Tor von Shkodran Mustafi, den Paraden von Manuel Neuer und dem Triumphlauf von Bastian Schweinsteiger – in der visuellen Endlosschleife immer wieder abspulen. Das Spiel bot ja genug Aufreger.

Nur: So einfach ist das mit dem Fußball der Nationalmannschaft zurzeit nicht. Und das sagt mehr über den verschobenen politischen Diskurs in Deutschland aus, als über das, was ein paar Sportler auf einem Stück Rasen gerade in Frankreich machen. Es geht dabei um gute Absichten, die in die Irre gehen können, um falsche Zusammenhänge – und um die Frage, inwieweit die AfD jetzt eigentlich schon die Wahrnehmung eines einfachen Fußballspiels prägt.

Von Framing sprechen Sozialwissenschaftler, wenn sie sich darüber unterhalten, innerhalb welches Deutungsrahmens ein Ereignis wahrgenommen wird. Und wenn sie darüber sprechen, wer festlegen kann, wie dieser Deutungsrahmen aussieht. Wenn man sich nun die Reaktionen während und nach dem Spiel anschaut, muss man sagen: Ziemlich viele lassen sich das Framing eines Fußballspiels von Alexander Gauland vorgeben.

Bundestrainer Jogi Löw gab mit dem Satz "Ist schon gut, wenn man einen Boateng als Nachbarn hat", Gauland zwar noch elegant im Vorbeigehen eins mit. Aber bereits während des Spiels rechneten manche aus – natürlich aus einer im Grunde richtigen Haltung heraus –, wie der Spielstand ohne Mustafi und Boateng lauten würde.

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Und das ging in der Spielnachlese am Montagmorgen ähnlich weiter:

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So nachvollziehbar der Impuls ist, der AfD eins auszuwischen, so falsch ist es doch, verschiedene Spielstände für "verschiedene" Nationalmannschaften auszurechnen. Oder Spieler, deren Eltern aus einem anderen Land kamen, nicht nur für ihre Leistungen zu feiern, sondern diese auch als Munition in der Integrationsdebatte zu benutzen. Warum das ein Problem ist, zeigt sich, wenn man im Gedankenspiel das Szenario mal umdreht: Was wäre passiert, wenn Boateng den Ball nicht mehr vor der Torlinie bekommen hätte? Würde sich dann irgendwas an ihm ändern? Müsste er dann neu beweisen, in der deutschen Nationalmannschaft spielen zu dürfen?

Shkodran Mustafi ist in Bad Hersfeld geboren, Mesut Özil in Gelsenkirchen und Jerome Boateng in Berlin. Sie alle sind in Deutschland aufgewachsen und haben hier angefangen, Fußball zu spielen. Warum sollten wir ihre Leistungen in der Nationalmannschaft anders betrachten als die von Manuel Neuer und Thomas Müller? Warum sollte Alexander Gauland mitbestimmen, wie wir ein Fußballspiel anschauen und bewerten? Warum sollten wir uns – selbst wenn es unsere Intention dabei ist, völkisches Denken abzuwehren – auf die Logik der AfD einlassen?

Also: Lasst uns über Fußball reden. Der alte Mann mit den komischen Jacketts hat in den vergangenen Wochen weiß Gott genug Aufmerksamkeit bekommen.

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