Das Gefühl, der Öffentlichkeit zu viel von sich preisgegeben zu haben, kennt Dave Eggers ziemlich gut. 2000 betrat er die Literaturszene mit dem autobiografischen Roman Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität. Darin erzählte er, wie er mit Anfang 20 beide Eltern an Krebs verlor. Und wie er danach versuchte, für seinen achtjährigen Bruder ein Ersatzvater zu sein. Als er das Buch schrieb, wusste er nicht, ob es jemals verlegt würde. Es verkaufte sich dann allein in den USA mehr als 400.000 Mal. Und Eggers musste fortan damit leben, von Wildfremden gefragt zu werden, wie es seinem Bruder gehe. Die Menschen, denen er bei seinen Lesungen gegenüber saß, wussten nun, dass er als Kind von seinem Vater geschlagen worden war, seinen Salat ohne Dressing aß und Sex ohne Kondome hatte. Er hatte all das, wenn auch mit postmodern-ironischem Vorwort versehen, ja selbst aufgeschrieben.
In diesen Tagen erscheint Eggers’ neuer Roman Der Circle bei Kiepenheuer & Witsch auf Deutsch – und der 44-Jährige beherrscht als Warner vor einer völlig transparenten Gesellschaft gerade die Feuilletons der Republik. Zeitungen drucken achtseitige Spezialausgaben oder schicken Reporterteams ins Silicon Valley, um zu recherchieren, wie weit entfernt die im Circle entworfene Zukunft noch von unserer von Google, Facebook und Co. bestimmten Gegenwart ist.
Eggers erzählt die Geschichte von Mae Holland, einer unbedarften Anfangzwanzigerin, die in der Kundenbetreuung des Internetkonzerns Circle zu arbeiten beginnt und sich ganz dem Firmencredo der totalen Offenheit und der permanenten Kommunikation mittels sozialer Medien verschreibt. Der Circle ist eine Verschmelzung aus Google, Apple, Facebook und Paypal. Im Laufe der Handlung werden auf dem Firmencampus, der Mae mit seinen gläsernen Arbeitsplätzen, Sportanlagen und kostenlosen Übernachtungsmöglichkeiten geradezu paradiesisch erscheint, immer wieder technische Innovationen vorgestellt, die nur ein Ziel haben: die Gesellschaft in ein Panoptikum zu verwandeln, in dem es keine Geheimnisse mehr gibt. Oder wie es einer der drei Weisen des Circle, der obersten Chefs, formuliert: Alle sollen alles wissen.
So unstrittig die gesellschaftliche Relevanz des Stoffs, so geteilter Meinung sind die Kritiker bei der Einschätzung des literarischen Werts. Circle-Verächter bemängeln, dass die Handlung langweilig, die Figuren eindimensional und die Metaphern mit dem Holzhammer zurechtgeklopft seien. Circle-Verteidiger halten dem entgegen, dass es Eggers eben gerade nicht um psychologisch fein verästelte Charaktere gehe, sondern der Fokus auf der Allmacht des Konzerns und der dahinterstehenden Ideologie liegt.
Um das im Sinne der Transparenz hier auch gleich offenzulegen: Ja, der Roman hat sicher ein paar literarische Schwächen und eine etwas intelligentere Hauptfigur als die nicht besonders helle Mae hätte ihm gut getan. Aber trotzdem ist der Circle nicht nur ein eminent wichtiges, sondern auch ein höchst lesenswertes Buch. Ihre großen Stärken hat die Erzählung immer dann, wenn Mae unbeabsichtigt aus der Gemeinschaft der alles miteinander Teilenden ausschert. Daraufhin folgt nämlich unweigerlich ein Mitarbeitergespräch mit jemanden, der in der Hierarchie über ihr steht. In einer Mischung aus positiver Psychologie, der Doktrin völliger Transparenz und dem Glauben, dass es für jedes Problem eine technische Lösung, also ein Tool gibt, wird Mae davon überzeugt, dass sie nicht einfach in ihrer Freizeit paddeln gehen kann, ohne digitale Spuren in Form von Posts oder hochgeladenen Fotos zu hinterlassen. Oder dass es eine gute Idee sei, sich eine kleine Kamera um den Hals zu hängen, um ihr gesamtes Leben für alle im Internet zugänglich zu streamen.
Jubelnd in den Totalitarismus
Hier zeigt Eggers, wie der Glaube an die Segnungen einer transparenten Gesellschaft umkippt in ein totalitäres System. Im Gegensatz zu George Orwells Überwachungsklassiker 1984, wo jedem Abweichler Folterkeller und Gulag drohen, wird die Auflösung der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem im Circle von den Betroffenen aus freien Stücken gewählt, ja viel mehr noch: Sie wird frenetisch bejubelt. Indem Eggers für den kritischen Überwachungsdiskurs so eine erzählende Form findet, kann er vielleicht auch jene für die Gefahren der totalen Vernetzung sensibilisieren, die nicht jeden Evgeny-Morozov-Aufsatz lesen und jede Edward-Snowden-Videobotschaft schauen.
Der Schriftsteller Eggers glaubt mit großer Unbedingtheit an die gesellschaftliche Wirkung von Literatur. 2009 veröffentlichte er den Doku-Roman Zeitoun, in dem er die Geschichte eines Syrers in New Orleans erzählte, der sich Wohlstand und Ansehen erworben hatte. Nach dem Hurrikan Katrina wurde Abdulrahman Zeitoun plötzlich verhaftet und in einen Käfig gesperrt, weil man ihn für einen Al-Qaida-Mann hielt. Mit dem Geld, das er mit dem Buch verdiente, gründete Eggers später eine Stiftung, die die Einhaltung der Menschenrechte in den USA fördern soll.
In seiner Heimatstadt San Francisco hat er einen eigenen Verlag und gibt eine der wichtigsten amerikanischen Literaturzeitschriften heraus, in der neben unbekannten Talenten auch Autoren wie Jonathan Lethem und Zadie Smith schreiben. Außerdem hat er ein Nachhilfezentrum für Schüler mit Latinowurzeln aufgebaut, in dem die Teenager auch selbst Geschichten schreiben. Kurz gesagt: Eggers ist der gute Mensch der amerikanischen Literatur, eine Art kalifornischer Heinrich Böll.
Insofern ist es auch kaum überraschend, dass ihm nun mit dem Circle etwas gelungen ist, von dem viele Schriftsteller lediglich träumen: mit einem Roman eine wichtige gesellschaftliche Debatte neu zu befeuern.
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