Die Aussicht ist faszinierend. Aus 530 Meter Höhe blickt man auf die Südspitze Manhattans, in Miniaturgröße sind die Freiheitsstatue und Ellis Island im glitzernden Wasser zu sehen. Man dreht den Kopf ein wenig, der Blick geht über den East River nach Brooklyn. Dann senkt man den Kopf und schaut in die Tiefe. Von der Spitze des neuen World Trade Center – einer schmalen, 120 Meter hohen Metallkonstruktion – blickt man auf das Dach des Wolkenkratzers und in die Straßenschluchten, in denen winzige Autos nur langsam von der Stelle kommen.
Für Menschen mit Höhenangst ist das nichts, für alle anderen ist es aber ein irres Gefühl, den Fotografen Jimmy Chin zu begleiten, wie er die metallenen Sprossen hochsteigt. Und sich dabei umzuschauen wie er: nach oben, nach unten, nach links, nach rechts, als wäre man selbst dabei. Der Mann auf dem Turm (Man on Spire) heißt das jüngste 360-Grad-Video in der Virtual-Reality-App der New York Times. Das sichtbare Bild passt sich dabei den Bewegungen an, die man mit dem Smartphone macht. Und wenn man das Gerät dazu in ein Papp-Kästchen steckt, das mit Scheuklappen den Rest der Welt ausblendet, versteht man, warum hier von einer anderen, von einer zweiten Wirklichkeit gesprochen wird.
Lust auf Experimente
Virtual-Reality-Anwendungen werden schon seit einer Weile für die Unterhaltungsindustrie und den Bildungssektor entwickelt. Videospielfans sollen in ihre Fantasiewelt eintauchen, die Biologielehrerin ihre Klasse durch einen virtuellen Regenwald führen können. Seit einigen Monaten gilt Virtual Reality (VR) auch als neue Hoffnung des Journalismus. Die großen Medienhäuser – allen voran die New York Times – experimentieren gerade mit großer Lust, wie sich die Technik nutzen lässt.
Unterstützt werden sie dabei von Google. Wie in so vielen Bereichen pusht der Internetriese auch hier die Entwicklung, schon allein aus dem Anspruch heraus, bei jeder Neuerung vorne dran zu sein. So führte die Google-Tochter Youtube bereits im März 2015 die Möglichkeit ein, 360-Grad-Videos hochzuladen. Und drei Google-Entwickler bastelten aus zwei Linsen und etwas Pappe ein Guckkästchen – das Cardboard –, mit dem man jedes neuere Smartphone zur VR-Brille machen kann. Es ist eine typische Google-Lösung: einfach, billig und auf die große Masse zielend. Ganz nebenbei setzt der Konzern damit einmal mehr die Standards. Viele VR-Apps fordern einen nun zunächst auf, das Smartphone ins Google Cardboard zu stecken.
Viele der 360-Grad-Filme sind momentan der reinen Lust am Staunen gewidmet. So hat die New York Times auch einen Flug zu Pluto oder Tauchen mit Delfinen im Angebot. Und ja, im Alltag hat das für denjenigen, der gerade nicht in dieser Welt unterwegs ist, etwas Komisches, wenn die Freundin mit Papp-Kästchen vorm Gesicht Richtung Küchenboden blickt und ruft: „Die schwimmen ja unter einem durch.“
Die Analogie zu den Anfangstagen des Kinos liegt nahe. Genauso wie die VR-Filmer erst ausprobieren müssen, was in dem 360-Grad-Kosmos aufmerksamkeitstechnisch funktioniert, muss sich die Wahrnehmung der Nutzer erst an das neue Medium gewöhnen. Bei einer der ersten Filmvorführungen, die eine in einen Bahnhof einfahrende Lokomotive zeigte, sollen 1895 noch Zuschauer aus dem Saal gestürzt sein, weil sie erschraken. Als Kollateralschaden in der virtuellen Realität gilt dagegen der sich übergebende Nutzer. Manche Filme rufen Übelkeit hervor – meist bei Bewegungen wie Schweben oder Tauchen, während man fest auf einem Stuhl sitzt. VR-Filmer witzeln, sie müssten Potential Puke Shots vermeiden, potenzielle Kotz-Einstellungen.
Prädestiniert ist die neue Technik für die Reportage, das Genre, das schon immer den Anspruch hatte, dem Rezipienten das Gefühl zu vermitteln, direkt dabei zu sein. Oder anders formuliert: Für eine politische Talkshow braucht es keine 360-Grad-Optik. Die USA Today will allerdings in den nächsten Monaten beginnen, VR-Videos zu aktuellen Nachrichtenereignissen anzubieten.
Am spannendsten sind die Gehversuche des neuen Mediums aber da, wo sich die Produzenten relevanten Themen zuwenden und dafür nach neuen Formen des Erzählens suchen. So startete die New York Times ihre App mit einer Reportage, die das Leben von drei Flüchtlingskindern zeigt: eines ukrainischen Jungen, dessen Familie in das vom Krieg zerstörte Dorf zurückgekehrt ist; eines syrischen Mädchens, das in einem Zeltlager im Libanon lebt; und eines Jungen, der vor Kämpfen im Südsudan in die Sümpfe geflohen ist.
Die VR-Reportage nimmt einen mit in die zerbombte Schule in der Ostukraine, man kann sich umschauen zwischen den Trümmern, den Einschlagslöchern, den Granatenhülsen – und man sieht den Elfjährigen an seiner früheren Tafel stehen. Im Libanon rennt man mit syrischen Kindern durch ihr Camp, ein Junge trägt die 360-Grad-Kamera lachend an einem Stativ vor sich her. Und im Sudan gleitet man im Kanu mit dem Neunjährigen durch die Sümpfe, während er vom Tod seines Vaters spricht.
Allein diese Arbeit zeigt: Das neue Medium kann Dinge, die eine geschriebene Reportage oder der enge Rahmen eines Fernsehbilds nicht können. Die Möglichkeit, den Blick zu wenden und in jede Richtung der Umgebung zu schauen, schafft eine Unmittelbarkeit und Nähe, die man so noch nicht kannte. Die Ironie dabei ist, dass VR-Filme eines noch höheren inszenatorischen Aufwands bedürfen als klassische Dokumentarfilme. Damit nicht irgendwo in der Schule oder im Kanu ein Journalist zu sehen ist, muss dieser die 360-Grad-Kamera aufstellen und dann außer Sichtweite gehen. Das heißt auch: Mit den Kindern wurde vorher abgesprochen, was sie während der Aufnahme machten.
Einen klaren gesellschaftspolitischen Anspruch formuliert das VR-Projekt, das der Guardian im April vorgestellt hat: Es simuliert die Folgen von Isolation in einer 1,8 Meter mal 2,7 Meter großen Zelle und beginnt mit dem Hinweis, dass in US-Gefängnissen momentan zwischen 80.000 und 100.000 Gefangene in Einzelhaft sitzen, teils wegen minimaler Vergehen. Dann warnt die App, das Gezeigte kann „emotionale Reaktionen“ hervorrufen. „Willkommen in deiner Zelle“, sagt eine Stimme aus dem Off. Man sitzt auf dem Bett der Zelle. „Was wirst du jetzt hier tun?“ Man beginnt sich umzuschauen: die weißen Wände, der graue Betonboden, ein festgeschraubter Hocker und Tisch, Waschbecken, Klo, Metalltür, mehr ist nicht zu sehen. Dann erscheinen Gegenstände, ein Bodybuilding-Magazin auf dem Boden – wenn man den Blick darauf richtet, hört man Gefangene, die erzählen, wie oft sie in ihrer Zelle bis zur Erschöpfung trainierten.
Später wird es dunkel. Die Nacht sei in Isolationshaft die schlimmste Zeit, sagt jemand. Viele Gefangene bekommen psychische Probleme, Wahnvorstellungen. „Ich hatte das Gefühl, über meinem Bett zu schweben“, erzählt einer – und man beginnt zur Zellendecke aufzusteigen, was so wirklich wirkt, dass einem ziemlich unwohl wird. Risse ziehen sich über die Wände. Blut tropft neben den Hocker, während die Stimme sagt, dass viele in Isolationshaft anfangen, sich selbst zu verletzen.
Zeitgemäße Erzählform
Ob das noch Journalismus ist oder eher eine Form von politischer Digitalkunst, wäre eine gute Frage für Publizistikseminare. Genau wie die VR-Flüchtlingsreportage zeigt das Projekt aber, dass die Stärke des neuen Mediums in der Emotionalität liegt. Die virtuelle Realität zielt über die Augen direkt auf den Bauch – was zum Beispiel bei der Vermittlung des Leids von Menschen ja journalistisch auch völlig legitim ist.
Während der Guardian in der Zelle die Aufmerksamkeit mit Lichtkegeln lenkt, um den Nutzer dazu zu bekommen, den Blick auf dem Magazin verweilen zu lassen, stellt sich bei VR-Reportagen vor Ort eine alte Frage ganz neu: Wie führt man den Betrachter durch die Erzählung? Wie stellt man sicher, dass er nicht gerade woanders hinblickt, wenn an einer bestimmten Stelle etwas Zentrales passiert?
VR-Reportagen geben dem Nutzer mehr Freiheiten. Auch wenn der Journalist immer noch das Thema aussucht, die Kamera aufstellt, das Material schneidet – wohin in der virtuellen Welt der Blick gerichtet wird, hat er nicht mehr in der Hand. Damit passt das neue Medium zu einem Journalismus, dem im 21. Jahrhundert seine Position des Predigens vom Podium herab verloren gegangen ist. Das Modell „Einer sendet – alle anderen hören zu“ ist ja allein schon deshalb passé, weil heute so viele senden, auch jene, die früher nur zuhörten. Die 360-Grad-Reportage, die jeder mit eigenen Blickwinkeln individuell unterschiedlich anschauen kann, wirkt da gerade wie eine sehr zeitgemäße Erzählform.
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