Freier Kopf

Porträt Lamya Kaddor ist Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bunds. Sie unterrichtet Islamkunde und hat einen Koran für Kinder herausgegeben. Typische Muslima oder Rebellin?

Der Freitag: Frau Kaddor, bekommen Sie zurzeit viele Hass-Mails?

Lamya Kaddor: Ach, alle paar Tage kommt eine.

Was steht da drin?

Es gibt zwei Sorten. Entweder kommen sie von muslimischen Fundamentalisten. Die schreiben, ich sei für sie keine Muslima mehr und verwässere den ‚wahren‘ Glauben. Oder die Mails kommen von ‚besorgten‘ deutschstämmigen Mitbürgern und so genannten Islamkritikern. Die meinen, dass ich nicht in dieses Land gehöre oder eine Schläferin sei, bezahlt von saudi-arabischen Scheichs.

Sie haben zusammen mit muslimischen Intellektuellen, Wissenschaftlern und Unternehmern im Mai in Köln einen Verein liberaler Muslime, den Liberal-Islamischen Bund, gegründet. Dass man sich damit nicht nur Freunde macht, war abzusehen.

Ja, so lange mich aber diese beiden Seiten gleichermaßen kritisieren, muss ich auf dem richtigen Weg sein. Auch dass der Verein skeptisch beobachtet wird, ist völlig klar. Bisher gibt es in Deutschland vier große Muslimverbände – und jetzt ist da ein neuer Verein, der eine neue Generation von deutschen Muslimen vertreten will.

Warum war diese Vereins­gründung notwendig?

Die bisherigen Verbände sprechen nicht für alle Muslime in Deutschland. Aktuellen Umfragen zufolge fühlt sich nicht mal ein Drittel von ihnen vertreten. Das liegt auch daran, dass viele deutsche Muslime ein anderes Islamverständnis haben, zeitgemäßer und liberaler. In den Grundsätzen unseres Vereins steht, dass wir ein Minimum an Gläubigkeit verlangen, also dass unsere Mitglieder zum islamischen Glaubensbekenntnis stehen.

Was eint Ihre Mitglieder sonst?

Bei uns treffen sich sehr unterschiedliche Personen: Frauen mit und ohne Kopftuch, Konvertiten und Nicht-Konvertiten, Deutschstämmige und Menschen, deren Familien aus dem Maghreb, aus Bosnien oder der Türkei kommen. Aber sie alle sagen: Deutschland ist unsere Heimat.

Mit einem Interview zu den Rechten Homosexueller haben Sie gleich nach der Vereins­gründung für Aufsehen gesorgt.

Die Schlagzeile wurde von den Medien ziemlich zugespitzt. Da stand, dass unser Verein sich für die Homo-Ehe stark machen würde. Ich hatte nur gesagt, dass Homosexuelle selbstverständlich die gleichen Rechte wie alle anderen haben. Jeder weiß, dass es auch homosexuelle Muslime gibt, nur keiner spricht es auf muslimischer Seite an – dieses Schweigen ärgert mich.

Liberale Muslime werden in der deutschen Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen.

Das ist ein Problem, dass man aber bei jeder Religionsgemeinschaft beobachten kann. Die liberaleren Gläubigen sind schwerer zu erreichen. Sie leben individualistischer und halten wenig davon, in Gruppen zusammenzukommen. Deswegen sind sie meist nicht organisiert und werden kaum wahrgenommen.

In Ihrem Buch schreiben Sie: ‚Ich bin gläubige Muslima, aber das hindert mich nicht daran, eine gute Demokratin zu sein.’ Eigentlich traurig, dass man das betonen muss.

Sehr traurig und ich wünschte mir, ich müsste das nicht. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die es auch ganz gewöhnlichen Muslimen nicht immer einfach macht, sich wohl zu fühlen. Ich persönlich habe weniger Probleme, weil man es mir nicht sofort ansieht, dass ich muslimisch bin. Aber ich weiß, dass die Reaktionen ganz andere wären, wenn ich beispielsweise ein Kopftuch tragen oder gebrochen Deutsch sprechen würde.

In Ihrer Kindheit hatten Sie auch andere Erfahrungen.

Stimmt, damals hat mir mein Umfeld oft das Gefühl gegeben, anders zu sein. Ich wurde 1978 in Ahlen in Westfalen als Kind von syrischen Eltern geboren und wuchs zweisprachig auf. Weil ich fließend Arabisch und Deutsch sprechen konnte, fühlte ich mich auch arabisch und deutsch. Nur hat das eigentlich niemanden interessiert. Für meine Eltern stand fest, dass ich Araberin bin. Und in der Schule war ich immer die Ausländerin, oder meist einfach die Türkin.

Welche Konsequenzen hatte das?

Das führte zu absurden Situationen. In der fünften und sechsten Klasse auf dem Gymnasium musste ich in einen Förderunterricht gehen. Neben mir saßen Elf- und Zwölfjährige, die gerade aus der Türkei gekommen waren und sehr schlecht Deutsch sprachen. Meine deutschstämmigen Klassen­kameraden gingen derweil in den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht. Als Kind kann man das noch nicht so reflektieren, man nimmt nur wahr: Hm, komisch, irgend­-wie bin ich anders. Erst mit der Pubertät habe ich begonnen zu verstehen, dass bei uns zuhause wirklich eine andere Kultur gepflegt wurde.

Woran haben Sie das gemerkt?

Das sind lauter kleine Punkte: Es war etwa klar, dass ich keinen Alkohol trinke. Es war aber auch klar, dass ich als Tochter arabischer Eltern nicht erst um drei Uhr nachts nach Hause kommen kann. Auch nicht mit 18 Jahren.

Gab es einen Punkt, an dem Sie mal gegen Ihre Eltern aufbegehrt haben?

Nicht so richtig. Ich bin keine Rebellin. Es herrscht aber auch ein anderes Rollenverständnis, wenn man als Tochter in der arabischen Kultur aufwächst. Man nimmt die Eltern anders wahr als in deutschstämmigen Familien, wo man mit 18 Jahren erwachsen ist und irgendwann auszieht. In der arabischen Kultur bleibt man zeitlebens Tochter und die Eltern wollen weiterhin ein Mitspracherecht haben.

In Ihrer Kindheit waren Sie die Ausländerin, heute spricht man von Menschen mit Migrationshintergrund. Ist das besser?

Ich finde es schrecklich. Man wird als Mensch klassifiziert. Und durch die ständige Verwendung des Wortes ‚Migrationshintergrund’ im Zusammenhang mit Problemen und Kriminalität ist der Begriff negativ aufgeladen. Welchen Wert hat es überhaupt für unser Zusammen­leben zu wissen, ob ein Mensch Migrationshintergrund hat oder nicht? Keinen. Also warum wird in den Medien immer wieder gesagt: ‚Der türkischstämmige Hassan B. hat dieses und jenes getan...‘

Sie haben ja beschrieben, dass es kulturelle Unterschiede gibt ...

Ja, aber wenn ich eine zweite Kultur habe, dann muss ich diese doch nicht durch Abgrenzung erfahren. Genau das passiert aber, wenn man von ‚Menschen mit Migrationshintergrund’ spricht. Man grenzt diese Menschen ab. Das mag für wissenschaftliche Zwecke notwendig sein, aber hier geht es um die innere Einstellung der Gesellschaft – und da richtet dieser Gedanke vor allem Schaden an.

Ihre Mutter wurde in den 70er Jahren im deutschen Supermarkt wie eine Außerirdische angeschaut, erzählen Sie in Ihrem Buch.

Das war ein Schlüsselerlebnis, das sie mir sehr eindrücklich schilderte. Sie stand in dieser Kleinstadt in Westfalen im Supermarkt, als sie merkte, wie sie von einer jungen Mutter und ihrem kleinen Sohn lange unverhohlen angestarrt wurde. Dann sagte das Kind: ‚Guck mal, Mama, die Ausländerin trägt ein Kopftuch.’ Worauf die Frau das Kind peinlich berührt wegzog. Damals galt die ganze Erscheinung meiner Mutter als fremd und exotisch. Heute konzentriert sich fast alles auf das Kopftuch, das dann sofort mit der Unterdrückung der Frau gleichgesetzt wird.

Da hat sich etwas verschoben.

Ja, früher war das Beunruhigende der Ausländer, der klassische Gastarbeiter. Jetzt scheint es vor allem der Muslim zu sein. Soziale Probleme – nehmen wir jugendliche Schläger aus bildungsfernen Schichten – werden einfach dem Islam zugeschrieben. Die Erklärung lautet: Dieser Jugend­liche verhält sich gewalttätig, weil er muslimisch ist.

Sie tragen selbst kein Kopftuch, werden aber dennoch ständig darauf angesprochen.

Manchmal kann diese K-Frage ganz schön nerven. Ich treffe oft sehr emanzipierte Frauen, die sagen: ‚Das Kopftuch ist definitiv ein Zeichen der Unterdrückung.’ Das mündet dann meist in mühsamen Diskussionen. Natürlich gibt es Fälle, in denen es so ist. Aber allen Kopftuchträgerinnen zu unter­stellen, sie würden unterdrückt, ist schlicht falsch. Ich kenne Dutzende hochgebildete muslimische Frauen, die sich aus freien Stücken – gegen ihren Ehemann, gegen ihre Familie oder ihre Freunde – dafür entschieden haben.

Wie war das bei Ihnen?

Meine Eltern hätten sich gewünscht, dass ich ein Kopftuch trage. Aber sie hätten mich nie dazu gezwungen. Es war klar, dass unser Leben in Deutschland ein anderes ist als ihr früheres in Syrien. Ich bin nach meinen theologischen Studien zu der Überzeugung gelangt, dass das Kopftuch obsolet ist. Der Koran schreibt sittsame Kleidung vor, aber die sieht im Deutschland des 21. Jahrhundert anders aus als in der arabischen Welt des 7. Jahrhunderts. Man muss die Gebote des Korans im Spiegel der jeweiligen Gegenwart betrachten, anders geht es nicht.

In Ihrem Freundeskreis, erzählen Sie in Ihrem Buch, klagen viele gut integrierte, gebildete muslimische Frauen darüber, dass sie keinen passenden Partner in Deutschland finden.

Das ist wirklich nicht so einfach, weil sie gern einen Muslim heiraten möchten. Der Mann soll aber ein modernes Verständnis vom Islam haben, keine Macho-Allüren besitzen, zugleich aber intellektuell Schritt halten können.

Und solche Männer gibt es nicht?

Doch, klar gibt es die. Nur heiraten die lieber andere Frauen, die weniger dominant sind. Und dann ist der Heiratsmarkt schnell abgegrast. Das führt dazu, dass diese Frauen sehr lange Singles bleiben.

Sie unterrichten als Lehrerin auch Islamkunde an einer Hauptschule. Viele der Schüler aus der dritten und vierten Einwanderergeneration, sagen Sie, kennen den Islam gar nicht richtig, identifizieren sich aber stark damit.

Diese Jugendlichen suchen nach einer Identität. In Deutschland haben sie das Gefühl, nicht dazuzugehören. Und in der Türkei – die meisten Familien kommen daher – gelten sie nicht als Türken, sondern sind die Deutschen. Deswegen sagen sie: ‚Wir sind gläubige Muslime.’ Wenn man dann aber fragt, was das heißt, schauen sie einen nur mit großen Augen an.

Es hat Sie auch überrascht, welchen archaischen Geschlechterbildern viele Jugendliche anhängen.

Es sind teilweise absurde Vorstellungen. Ganz viele der Jungs mit 15, 16 Jahren haben in der Klasse zugegeben, schon mal im Bordell gewesen zu sein. Gleichzeitig erwarten sie, dass ihre zukünftige Frau als Jungfrau in die Ehe geht. Dabei müssen dem Koran zufolge beide Geschlechter keusch in die Ehe gehen.

Wie geht man als Lehrerin damit um?

Ich versuche, Fragen aufzuwerfen und einen Denkprozess in Gang zu setzen. Ich möchte diese Jungs dazu bringen, einmal darüber nachzudenken, warum eine Freundin für sie okay sein soll, ihre Schwestern aber im Gegenzug keinen Freund haben dürfen. Und ich frage, wer das überhaupt entscheiden darf.

Sie hinterfragen gern Dinge?

Ich habe früher oft meine Eltern mit Fragen genervt, etwa warum man im Islam denn fünfmal am Tag beten muss. Wenn denn eine Antwort kam, war sie meist un­befriedigend. Es gibt da aber einen kulturellen Unterschied. In Deutschland fragt man, wenn einen etwas interessiert. Im orientalischen Raum bedeutet es für viele, dass man etwas abwertet, wenn man Fragen dazu stellt. Das sind sehr unterschiedliche Denkweisen. Deswegen reagieren auch viele Schüler zunächst eher abweisend.

Weil Sie zu viele Fragen stellen?

Ja, wenn ich frage: ‚Wie stellt ihr euch Gott vor?’ Eigentlich die zentrale Frage für einen gläubigen Menschen. In der Schule höre ich dann erst mal, das dürfe man nicht fragen, das sei Blasphemie. Wenn die Schüler schließlich doch darüber nachdenken, bringt sie das auf interessante Antworten.

Muss der Islam in Deutschland einen ähnlichen Aufklärungsprozess durchlaufen, wie ihn etwa die Katholische Kirche erlebte?

Die Aufklärung, wie sie in Europa stattfand, lässt sich nicht einfach auf die islamische Welt übertragen. Die historische Ausgangslage ist eine ganz andere. Nur ein Den­kanstoß: Zentral in Europa war die Emanzipation von der Kirche. Muslime haben aber keine Kirche. Was dagegen die Mündigkeit oder Eigenverantwortung des Individuums betrifft, da steht in der muslimischen Welt in der Tat noch einiges aus – allerdings nicht nur da.

Sollten Muslime generell mehr hinterfragen?

Auf jeden Fall, in einer globalisierten Welt müssen wir die vielfach anerzogenen Denkblockaden nach und nach hinter uns lassen.

Das Gespräch führte Jan Pfaff

Für einen liberalen Islam: die Arbeit von Lamya Kaddor

Der Islam muss im 21. Jahrhundert ankommen: Das ist die Überzeugung von Lamya Kaddor. Dafür sei es notwendig, den Koran in seinem historischen Kontext zu verstehen und ihn mit Blick auf die Fragen der modernen Gesellschaft neu zu interpretieren. Kaddor gilt als eine der prominentesten Sprecherinnen liberaler Muslime in Deutschland. Sie wurde 1978 im westfälischen Ahlen als Kind syrischer Einwanderer geboren. Nach der Schule studierte sie Arabistik, Islamwissenschaft, Erziehungswissenschaft und Komparatistik an der Universität Münster. Mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter lebt sie heute in Duisburg.

Außerdem unterrichtet sie im Rahmen des nordrhein-westfälischen Schulversuchs Islamkunde in deutscher Sprache seit 2003 an einer Hauptschule in Dinslaken. Zusammen mit der Islamwissenschaftlerin Rabeya Müller hat sie 2008 den ersten herausgegeben. Dieser enthält auch Zeichnungen von Propheten, unter anderem ein Bild Mohammeds. Die Herausgeberinnen argumentierten, dass für jüngere Leser Illustrationen wichtig seien und das absolute Bilderverbot des Islams nur für Gott gelte, während bei den Propheten unterschiedliche Auffassungen akzeptabel seien.

Anfang des Jahres erschien von Kaddor zudem das autobiografisch geprägte Buch Muslimisch - weiblich – deutsch! im C.H. Beck Verlag. Darin fordert sie die liberalen Muslime in Deutschland auf, sich offensiver und sichtbarer zu gesellschaftlichen Fragen zu äußern. Diesem Ziel soll auch der Liberale-Islamische Bund dienen, den Kaddor zusammen mit anderen muslimischen Intellektuelllen Ende Mai in Köln gegründet hat. jap

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