Heiliger Ludwig, steh uns bei!

Wunderkritik In der Krise sucht das Land Zuflucht beim westdeutschen Gründungsmythos – dem Wirtschaftswunder. Bei der Rückbesinnung übersieht man aber leider so einiges

Der untersetzte Mann in dem altmodischen grauen Anzug und mit der Zigarre in der Hand muss an der Wall Street seltsam deplatziert gewirkt haben. Nicht nur, dass dort jeder Broker, der etwas auf sich hält, Stunden im Fitness-Studio verbringt, damit sich sein Bauch nicht zu sehr wölbt. Auch das Rauchen gilt in New York als Laster, dem wirklich nur noch ganz willensschwache Menschen frönen. Aber der dicke Mann sollte auffallen, das war sein Job. Das Ludwig Erhard-Double war von der neoliberalen PR-Maschine Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) engagiert worden, um bei den verstörten Wall Street-Bankern für die soziale Marktwirtschaft und ein neues Wirtschaftswunder zu werben. Die Rezepte von einst, so lautete die Botschaft, können auch in der heutigen Krise helfen.

Mit der Rückbesinnung auf Erhard und das Wirtschaftswunder steht die INSM in diesen Tagen keineswegs allein da. Kräftig wird im Aufschwung von einst geschwelgt. Das Magazin Geo, das sonst gefühlige Titel zur Macht der Emotionen und zum Muttersein bevorzugt, verknüpft auf seinem aktuellen Cover die Headline "Als wir ein Wirtschaftswunder waren" mit der Frage: "Kann uns der Rückblick auf ein glücklicheres Deutschland etwas lehren?" Genauso gut hätte man wohl fragen können: "Wie wird es wieder so schön wie damals?" Dazu gibt es Schwarzweißfotos aus den 50er Jahren, die einen völlig ungebrochenen Fortschrittsglauben zeigen. Voller Stolz auf die vielen neu produzierten Autos, die unter ihnen hindurch rollen, picknickt eine Familie auf einer Autobahnbrücke. Dahin will man zurück? Dann viel Spaß.


Auch der ums Überleben kämpfende Kaufhauskonzern Karstadt versucht mit einem Appell an Konsumerlebnisse von einst, um Kunden zu werben. Und gleichzeitig – so wohl auch das Kalkül – soll bei den Bürgern die Zustimmung für staatliche Finanzhilfen erhöht werden. "Wir erarbeiteten uns Sicherheit und unser kleines Stück vom Glück. Wir sind zusammen groß geworden", heißt es in der schwarz-rot-golden eingefärbten Karstadt-Werbung. "Und in den wirtschaftlich schweren Zeiten haben wir gemacht, was wir immer getan haben: die Ärmel hochgekrempelt, Verantwortung übernommen und mit großer Kraft daran gearbeitet, dass die Zeiten besser werden."

Dieser Zurück-zum-Wunder-Rhetorik ist natürlich hoffnungslos ahistorisch. Die Welt ist eine andere als jene, die Erhard kannte. Davon, dass die "wirtschaftlich schweren Zeiten" diesmal andere Ursachen haben als nach 1945 ganz zu schweigen. (Es gab damals wie heute natürlich Zeitgenossen, die der Ansicht waren oder sind, dass sowohl der Krieg wie auch die jetzige Finanzkrise grundlos wie Naturkatastrophen über die Menschheit gekommen sind.) Besonders erschreckend bei der Wunder-Sehnsucht ist aber, wie hier Konsum und ungebremstes Wirtschaftswachstum als Allheilmittel empfohlen werden. Als hätte es die Erfahrungen der Jahre dazwischen – Ölkrise, Massenarbeitslosigkeit und Klimawandel – nicht gegeben.

Statt wirklich über Alternativen nachzudenken, wird den Leuten empfohlen, doch ein bisschen shoppen zu gehen. Dann wird alles gut. Denn: Wunder gibt es immer wieder.

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