Im Wartesaal des Krieges

Türkei Viele syrische Flüchtlinge harren schon über zwei Jahre in türkischen Lagern aus. Sie kämpfen gegen die Hoffnungslosigkeit. Eine Reise ins Grenzgebiet
Ausgabe 49/2013
Mustafa, Ahmed Bestani und Rami Salim (von links)
Mustafa, Ahmed Bestani und Rami Salim (von links)

Foto: der Freitag

Hinter weißen Plastikplanen beginnt das Zuhause von Ahmed Bestani. Mit einer knappen Handbewegung bittet der Mann mit dem grauen Schnurrbart, durch eine schmale Öffnung einzutreten. Die Planen begrenzen einen Vorraum, der zu einem Wohncontainer führt. Vor der Tür liegt ein Teppich, auf dem Besucher die Schuhe ausziehen sollen. Drinnen ist ein enger Raum mit Sitzkissen ausgelegt, das Wohnzimmer. An der Wand hängt ein Kalender, auf einem Eckbord stehen Plastikblumen in Vasen, darunter ein kleiner Fernseher. Es ist der Versuch, sich im Vorübergehenden einzurichten – in einem Provisorium, das zum Dauerzustand geworden ist.

Im Juni 2011 musste Ahmed Bestani, ein syrischer Bauer, der sich nie groß für Politik interessiert hatte, sein Land verlassen. Sein Dorf wurde früh im Bürgerkrieg zerstört. Es gab kein Wasser mehr, keinen Strom. Einige Bewohner seien von Assads Soldaten als menschliche Schutzschilde gegen Scharfschützen benutzt worden, erzählt er. Mit seiner Frau und Verwandten flüchtete er über die nahe Grenze. Neben ihm auf dem Containerboden sitzen sein 16-jähriger Neffe Mustafa und Rami Salim, ein 32-jähriger Nachbar aus demselben Dorf. Er war früher Feuerwehrmann.

Seit mehr als zwei Jahren warten sie nun in einem Lager nahe der türkischen Grenzstadt Kilis mit 15.000 anderen Flüchtlingen darauf, dass sich etwas ändert, dass vielleicht eines Tages der Frieden wieder kommt. Richtig daran glauben können sie nicht mehr. „Wir wissen, dass wir womöglich noch Jahre hierbleiben“, sagt Salim, Bestani nickt knapp. Hinter dem östlichen Außenzaun des Lagers beginnt Syrien. Wenn die Kämpfe an manchen Tagen besonders nah heranrücken, hören sie hier die dumpfen Explosionen der Granaten, das Bellen der Gewehre. Eine verirrte Kugel flog vor Kurzem herüber. Sie hatte keine Kraft mehr, ein Mädchen wurde von ihr nur leicht verletzt.

Nein, die Menschen hätten keine Angst deswegen, versichert Salim. Auf dieser Seite der Grenze fühlten sie sich sicher. Und materiell sei für das Wichtigste gesorgt. Das Flüchtlingslager ist eine Kleinstadt auf Zeit. Es hat drei Supermärkte, in denen sich die Bewohner mit Magnetkarten ein bestimmtes Kontingent an Lebensmitteln holen können. Es gibt ein Krankenhaus, einen Kindergarten und zwei Schulen. Und jeder bekommt einen – wenn auch bescheidenen – Platz zum Leben. 21 Quadratmeter hat ein Container, zwei Zimmer, Kochnische, Bad. Je nach Familiengröße leben zwischen fünf und neun Menschen darin.

Im Vergleich zu anderen Lagern, in denen Flüchtlinge auch während des Winters in Zelten ausharren, ist die Situation hier noch relativ komfortabel. Was aber alle belaste, sei die Perspektivlosigkeit, sagt Salim. Die Menschen im Camp sitzen fest im Wartesaal des Krieges. Viele werden depressiv, weil sie keine Aufgabe haben, nicht wissen, wann ihr Leben weitergeht und ob sie jemals zurückkehren können. Bei Befragungen der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR gaben mehr als 50 Prozent an, sie bräuchten psychologische Hilfe.

Beten, beten, beten

Er gehe fünf Mal am Tag in die Moschee des Lagers zum Beten, erzählt Ahmed Bestani. Darüber hinaus gebe es für ihn nichts zu tun. Salim unterrichtet in der Lagerschule Englisch, obwohl er es selbst nur gebrochen spricht. Am besten hat sich Mustafa an das Leben im Wartestand gewöhnt. Wenn er nicht in der Schule sei, spiele er oft mit Jungen aus Kilis Fußball, sagt er. Seine Freunde hätten ihn schon im Lager besucht. Anders als die meisten Erwachsenen spricht er mittlerweile gut Türkisch, er hat es in der Schule gelernt.

Salim, Bestani und sein Neffe gehören zu den Veteranen eines Flüchtlingsstroms, der nicht enden will. Im April 2011 suchten die ersten Syrer Zuflucht in angrenzenden Ländern, viele im Libanon, in Jordanien und Ägypten. Trotz der Sprachbarriere zwischen Arabisch und Türkisch fliehen die Menschen aber auch in die Türkei. In Aleppo und Umgebung haben viele Verwandte auf der anderen Seite der Grenze. Insgesamt wird die Zahl der Flüchtlinge in den Anrainerstaaten Syriens mittlerweile auf bis zu drei Millionen geschätzt, die Gastländer bringt das an die Grenze ihres Aufnahmevermögens. Selbst die wirtschaftlich starke Türkei. Allein hier prophezeien Prognosen mehr als eine Million Flüchtlinge bis Ende des Jahres.

Sosehr die Geschichten der Geflohenen sich ähneln, sosehr sich die Erzählungen von Leid und Angst gleichen – wenn sie die türkische Grenze überquert haben, teilen sich die Flüchtlinge in verschiedene Gruppen auf. Privilegiert sind noch jene, die bei Verwandten unterkommen oder genug Geld haben, sich eine Wohnung in den Städten zu mieten. Daneben gibt es die große Gruppe der in Lagern Festsitzenden. Am schlechtesten dran sind die nichtregistrierten.

Eine reguläre Registratur bringt einem eine Pappkarte mit Stempel. Sie ermöglicht einen kostenlosen Zugang zur staatlichen Gesundheitsversorgung. Zudem erhält man Lebensmittel und Sachspenden, die Kinder können spezielle Schulen besuchen. Dennoch schrecken viele Flüchtlinge davor zurück. Sie haben Angst, es könnte gegen sie verwendet werden, wenn sie eines Tages nach Syrien zurückkehren und Baschar al-Assad weiter an der Macht sein sollte. Oder sie befürchten, dass ihre zurückgebliebenen Angehörigen bestraft werden. Die Nichtregistrierten tauchen in den offiziellen Statistiken nicht auf, man sieht sie aber im Straßenbild der Städte – menschliche Schatten, die auf öffentlichen Grünflächen herumlungern und auf Gelegenheitsjobs warten.

Das kann man zum Beispiel in Gaziantep beobachten, 45 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Die Stadt ist eine schnell wachsende Metropole mit 1,6 Millionen Einwohnern. Bürgermeister Asim Güzelbey von der Regierungspartei AKP hat an diesem Vormittag eine Gruppe Journalisten in sein Büro gebeten. Hinter einem klobigen Schreibtisch sitzt er in dunklem Anzug und mit gelber Krawatte, über ihm ein goldenes Gesichtsrelief von Staatsgründer Kemal Atatürk. Güzelbey erzählt vom wirtschaftlichen Aufschwung. Man habe die historischen Gebäude der Altstadt nach und nach saniert, um Touristen anzuziehen. Das meiste Geld verdient Gaziantep aber mit seiner Textilindustrie. Weil der Aufschwung Investoren anlockt, erlebt die Stadt gerade auch einen Bauboom.

85.000 Syrer hat man hier bisher registriert, dazu kommen noch geschätzt 50.000 nichtgemeldete Flüchtlinge in der Stadt. Und nein, Spannungen zwischen der Bevölkerung und den Neuankömmlingen gebe es keine, sagt Güzelbey. Mit dem Selbstbewusstsein des erfolgreichen Kommunalpolitikers schlägt er seine Lösung vor: „Es wäre gut, wenn wir ihnen allen zeitlich befristete Arbeitserlaubnisse geben würden.“ In seiner Stadt gebe es nahezu Vollbeschäftigung, die Baubranche suche händeringend nach Arbeitskräften.

Viele Flüchtlinge in Gaziantep seien zudem hochqualifiziert, Ärzte, Ingenieure, Architekten, sagt der Bürgermeister. Akademiker erhalten oft einfacher eine Arbeitserlaubnis. Einige haben an der Universität Stellen gefunden, der ehemalige Bürgermeister von Aleppo lehrt hier nun Städtebau an einer privaten Hochschule. Man kenne sich schon lange, sagt Güzelbey. Gaziantep und Aleppo sind Partnerstädte.

Einen Haken habe sein Vorschlag mit der Arbeitserlaubnis allerdings, räumt er ein. Es könnte zu einem größeren Zustrom von Flüchtlingen aus ärmeren Gegenden des Landes kommen. Und das könnte selbst seine Stadt überfordern. In anderen Grenzregionen ist das Klima zudem angespannter. In der Stadt Reyhanli explodierten im Mai zwei Autobomben, die 46 Menschen töteten. Die türkische Regierung verdächtigte Assads Geheimdienst. Es kam zu vereinzelten Ausschreitungen gegen Syrer.

In Gaziantep hat der Zuzug der Flüchtlinge dafür gesorgt, dass sich die Wohnungsmieten fast verdoppelt haben. Zudem verdingen sich viele Syrer als schwarzarbeitende Tagelöhner, was zu Lohndumping führt. Um für die Akzeptanz der staatlichen Flüchtlingshilfe zu werben, laufen im Fernsehen von der örtlichen Universität produzierte Dokumentationen, die das Leid der Syrer und die Großherzigkeit der Türkei betonen. Die AKP-Regierung um Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan sieht es zum einen als ihre Pflicht an, den geflohenen sunnitischen Glaubensbrüdern zu helfen. Zum anderen unterstützt man alles, was Assad schwächt, laut türkischer Opposition auch Waffenlieferungen an Aufständische.

Vorsichtig gewählte Worte

Nach Kritik aus dem Ausland, den Krieg anzuheizen, indem man Dschihadisten die Durchreise nach Syrien gewähre, reagierte Ankara nun. Laut einem Regierungsbericht hat man 1.100 festgenommene Islamisten in ihre Heimatländer abgeschoben, vor allem nach Deutschland, Frankreich und in die Niederlande. In der Grenzregion kursieren aber viele Geschichten, die sich kaum überprüfen lassen. Etwa über Milizenführer der syrischen Opposition, die die Türkei als Rückzugsraum nutzen und versuchen, Männer aus Flüchtlingslagern mit Zwang zu rekrutieren. Darüber will niemand sprechen. Es herrscht ein Klima des Misstrauens und der vorsichtig gewählten Worte.

Mahmut Kaya arbeitet als Stringer. Der türkische Journalist begleitet ausländische Kollegen bei ihrer Arbeit, organisiert Gesprächspartner und übersetzt. Auf einer Busfahrt nach Gaziantep erinnert er sich an einen seiner letzten Besuche im Flüchtlingslager in Kilis. Ein Fernsehteam hatte eine syrische Frau als Stringer engagiert, die Interviews aus dem Arabischen übersetzte. „Sie wirkte sehr nervös. Alle dachten, sie habe Probleme mit dem Übersetzen“, sagt Kaya. „Später erfuhren wir, dass sie über die Gespräche an Assads Geheimdienst berichtete. Deshalb erzählen die Menschen nicht alles.“

Von der für Januar geplanten Syrien-Konferenz in Genf erwartet an der Grenze niemand eine Lösung. Im Container von Ahmed Bestani traut sich nur Mustafa, über die Zukunft zu sprechen. Später, wenn alles vorbei sei, würde er gern Lehrer werden, sagt er, Sportlehrer. Das sei sein Traum.

Die Recherche wurde von der Robert-Bosch-Stiftung finanziell unterstützt

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