Ist das jetzt alles so wie im Buch? Die Fahrt mit dem Regionalzug, der Einstieg am Berliner Hauptbahnhof, die Stopps in der Brandenburger Provinz, die Ankunft in Zehdenick – und dann: ja, diese Kleinstadt 60 Kilometer nördlich von Berlin wirkt tatsächlich ziemlich dunkel. Auf die Straßen fällt gelbes Laternenlicht, nur selten ist ein Passant zu sehen. Fast so wie Moritz von Uslar es in Deutschboden beschrieben hat. Nur ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, der aus demselben Zug steigt, stört das Re-Enactment ein wenig.
Der ständige Abgleich zwischen Text und Wirklichkeit gehört an diesem Abend zum Konzept. Uslar hat zur Lesung ins Bowlingcenter Zehdenick geladen, sein Buch erzählt von einem dreimonatigen Aufenthalt in dem 14.000-Einwohner-Städtchen. „Ein Reporter trifft seine Beobachteten“, bewirbt die Lokalzeitung die Veranstaltung, ein regionales Ereignis, die 270 Karten waren innerhalb von zwei Tagen ausverkauft.
Das Bowlingcenter sieht auch so aus, wie man sich einen Treffpunkt in der Kleinstadt vorstellt. Pokale des örtlichen Fußballvereins glänzen in der Vitrine, an die Wände des Neubaus sind Werkzeuge von Havel-Schiffern genagelt, die an die Vergangenheit der Stadt erinnern sollen. Teenager sind gekommen, Jungs, die viel Zeit in Fitness-Studios verbringen, Mädchen, die viel Zeit in Sonnenstudios verbringen, viele ältere Damen mit Kurzhaarfrisuren.
„Wo kaum ein Mensch je war“
Er wollte etwas Ausgefallenes machen, dort hingehen, „wo kaum ein Mensch je von uns war“, schreibt Uslar, Gesellschaftsreporter und Star-Interviewer der Zeit, in seinem Buch. Deswegen verließ er sein Leben in Berlin-Mitte und mietete sich in der Kleinstadt – im Buch abwechselnd Oberhavel und Hardrockhausen genannt – in einer Pension ein. Er trainierte im Boxclub, hing mit einer Punkband im Proberaum ab und soff mit den Männern in der Kneipe.
Das ganz gewöhnliche Leben in der ostdeutschen Provinz aus der Sicht eines Hauptstadtjournalisten zu beschreiben, die Klischees mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, ist auch als ein Stück Medienkritik gedacht. Reporter aus Berlin werden ja sonst nur in den Osten geschickt, wenn es um die einschlägigen Themen geht: Hartz-IV-Elend, Rechtsradikale, tote Babys.
Diesmal kommen die Großstadtjournalisten wegen einer Lesung. Die ersten zwei Reihen im Saal sind für die Presse reserviert, Süddeutsche, FAS, Zeit, taz sitzen dort. Being Moritz von Uslar, ein bisschen zumindest, alle wollen die Zehdenicker Protagonisten mal in Echt erleben.
Uslar tritt auf die grell ausgeleuchtete Bühne, freundlicher Applaus. Bürgermeister Arno Dahlenburg begrüßt den „lieben Moritz“. Er habe sich beim Lesen des Buchs nur manchmal gefragt, was er die vergangenen sieben Jahre falsch gemacht habe, wenn von den dunklen, heruntergekommenen Straßen und den vielen DDR-braunen Häusern die Rede war, sagt Dahlenburg. Um gleich darauf einen Witz zu versuchen: Er werde das Buch bei nächster Gelegenheit einfach Bundesverkehrsminister Ramsauer schenken, um „noch ein paar tausend Euro mehr“ aus der Städtebauförderung zu bekommen. Ein ostdeutscher Bürgermeister, der nach mehr Subventionen ruft – ist das jetzt die Bestätigung des Klischees oder dessen ironische Brechung, indem der Satz zur Pointe wird?
Dahlenburg überreicht Uslar ein Ortsschild, auf dem „Stadt Oberhavel Hardrockhausen“ steht, daneben die Unterschriften der wichtigsten Figuren des Buchs. Nur die Besitzer der Pension, in der Uslar wohnte, fehlen. Es heißt, sie seien wegen unvorteilhafter Beschreibungen vergrätzt, der Autor habe dort nun Hausverbot.
Uslar beginnt das Kapitel über seinen ersten Abend im Gasthaus Schröder zu lesen, dem zentralen Ort des Buchs. Hier kippen die Männer ein Bier nach dem anderen. Uslar imitiert den Brandenburger Dialekt, mit großer Begeisterung liest er Worte wie „weeßicknich“, „fastehste“ und „unjlaubar“ vor. Die Zehdenicker lachen. Es ist ein befreites, selbstironisches Lachen.
An einer Stelle des Kapitels fragt der Reporter seinen Kneipenbekannten, einen Hartz-IV-Empfänger, woran er selbst den typischen Hartzer erkenne. Das sei ganz einfach, erfährt der Reporter: „Dünner, dreckiger Hund, kleine, dicke Alte dazu. Mindestens zwei Kinder, eins im Arm, eins im Kinderwagen und noch eins im Bauch.“ Der Saal lacht jetzt richtig laut, ein böses, ein nach unten tretendes Lachen.
Nur vorsichtige Kritik
Nach der Lesung werden Mikrofone für Fragen aus dem Publikum herumgereicht. Es gibt viel Zustimmung, verbales Schulterklopfen, Kritik wird nur vorsichtig formuliert. Eine Frau bemerkt, dass Zehdenick doch „mehr als die Gaststätte Schröder“ sei. Uslar antwortet, er habe nie vorgehabt, ein vollständiges Stadtporträt zu schreiben, es sei ihm nur um sein subjektives Bild einer Kleinstadt gegangen. Das ist richtig – und dennoch nur die halbe Wahrheit, denn natürlich schreibt er mit dieser Reduzierung wieder mit an jenen Ost-Klischees, die er eigentlich hinterfragen wollte. Das endlose Trinken („Noch ’ne Molle. Eine schöne Molle“), die völlige Abwesenheit von Frauen und das nicht ganz so geistreiche Sinnieren bei fortgeschrittenem Alkoholpegel, werden exzessiv vorgeführt.
Einer der beschriebenen Kneipengänger mit dem Spitznamen Blocky meldet sich aus dem Saal zu Wort. „Moritz, ick hab dir jesagt, schreib’ keinen Scheiß – haste auch nich’ jemacht.“ Als eine andere Frau einwendet, die Zehdenicker könnten in diesem Buch als etwas minderbemittelt rüberkommen, wird sie von der Gruppe der Gasthaus-Schröder-Gäste ausgebuht.
Dann spielt die Band aus dem Buch. Uslar nimmt an einem Stehtisch einen tiefen Schluck aus einem Bierglas und signiert Bücher. Manche Wartenden lassen vier Exemplare abzeichnen („Ist ja bald Weihnachten“). Ein paar Meter weiter steht Uslars Lektor, ein junger Mann in buntkariertem Hemd. „Wahnsinn“, sagt er mit Blick auf die Schlange. „Und das, wo es doch so schwer ist, Hardcover im Osten zu verkaufen.“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.