Nichts vor großer Kulisse

Bücherkalender Große Bewunderung für einen Roman, der nichts hat: Jan Pfaff fühlt den Mechanismen des Literaturbetriebs auf den Zahn

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Zu den Eigenheiten des zeitgenössischen Literaturbetriebs gehört es, dass eine interessante Vita des Autors oder eine bemerkenswerte Geschichte über die Entstehung eines Texts für den Erfolg ungleich wichtiger sind als der literarische Wert eines Buchs. Das fiel mir als Erstes ein, als ich um einen Verriss für diesen digitalen Adventskalender gebeten wurde. Mitsamt einem konkreten Beispiel. Vergangenen Herbst erschien auf Deutsch James Salters Alles, was ist. Die Kritiker überschlugen sich vor Bewunderung, etwa in der Zeit oder der taz. Auch der Freitag übernahm ein sehr wohlwollendes Salter-Porträt aus dem Guardian, das ich produzierte.

Und dabei dachte ich: ja, Alles, was ist klingt wie einer jener Romane, die mich interessieren.

Ich kam erst Monate später dazu, ihn zu lesen und merkte: Er hat nichts. Er mag mitunter schöne Formulierungen finden. Er beschreibt das Leben eines Amerikaners, der als 20-Jähriger an der entscheidenden Schlacht der US-Marine gegen die japanische Armee 1945 teilnimmt, seine Rückkehr, sein Leben in New York. Wie er Lektor wird, Affären hat, auch feste Beziehungen, ein Haus kauft und wieder verliert, schließlich alt wird. Nur das alles lässt einen völlig kalt. Philip Bowman ist ein Protagonist, dem man – obwohl man ihm bei seinem Leben zuschaut – nicht nahekommt. Man kann sich weder über ihn aufregen, noch empathisch mitfühlen.

Nun muss große Literatur nicht immer große Emotionen hervorrufen, aber Alles, was ist kann auch nicht mit Reflexionen aufwarten, die einen zu spannenden Gedanken führen würden. Gegen Ende des Buchs heißt es, weil der Protagonist ja Lektor ist, wehmütig: "Die Bedeutung des Romans im kulturellen Verständnis des Landes hatte an Kraft verloren. Es war allmählich passiert. Es war etwas, das jeder wusste, aber ignorierte." Das mag ja richtig sein, aber so what? Womöglich verfängt dieser melancholische Ton bei Lesern, die gern lesefreudigeren Zeiten hinterhertrauern und die Gegenwart als kulturlos wahrnehmen, aber ich kann damit nichts anfangen.

Die hymnischen Besprechungen verdankt Alles, was ist – da bin ich mir ziemlich sicher – dem Umstand, dass sich Salters Biographie vor die literarischen Qualitäten des Buchs geschoben hat. Diese Geschichte eines Schriftstellers, der Jagdflieger im Koreakrieg war und erst spät als Romanautor debütierte, dessen Hauptwerk Lichtjahre nach seinem Erscheinen in den Siebzigern erst in den Neunzigern auf Deutsch übersetzt und hierzulande entdeckt wurde. Und der 2013 nach 34 Jahren Romanpause im Alter von 88 noch einmal einen großen Wurf versuchte. Diese Geschichte war für den Literaturbetrieb einfach unwiderstehlich. Und zu der Erzählung gehört zwingend dazu, dass das Buch dann gut, ja sogar groß sein musste. Was nur leider nicht stimmt.

Wer gern amerikanische Romane mit Reflexionen über Vergänglichkeit liest, über jenen Schmerz, der zurückbleibt, wenn die Lieben und Affären von einst nur noch Teil einer fernen Erinnerung sind, sollte lieber zu John Updikes Landleben oder zu Philip Roths Das sterbende Tier greifen. Alles, was ist sollte er ignorieren.

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