Obdachlos, aber online

Netzgeschichte Tim Edwards lebt an einem Highway in Houston. Und er ist auf dem Weg zu einer Internet-Berühmtheit. Der Obdachlose erzählt im Netz aus seinem Leben - kein Einzelfall

Die Kritiker und Spötter haben nicht lange auf sich warten lassen. Man nehme einem Menschen sein letztes Stück Würde, das Leben auf Straße lasse sich nicht unterhaltsam darstellen - so lauten die Vorwürfe gegen die Macher der Webseite "Pimp This Bum!", was so viel heißt wie "Motz diesen Penner auf".

Auf der Seite lernt man in Youtube-Filmchen den 37-jährigen Tim Edwards kennen, der seit mehr als vier Jahren als Obdachloser unter einer Brücke des Highway 6 in Houston, Texas lebt. Mit trockenem Humor erzählt Edwards vom Leben ganz unten. Man erfährt, dass er manchmal Strafzettel fürs Betteln bekommt, dass am Samstagabend die Autofahrer auf dem Weg zu Partys an der Highway-Kreuzung besonders spendenfreudig sind und dass er lieber geheim hält, wo er genau schläft, weil sonst "Verrückte" vorbeikommen könnten.


Außerdem trägt Edwards regelmäßig einen "Witz der Woche" vor und es werden Events wie das Live-Rasieren seines Barts angekündigt. Hinter dem Projekt stehen Sean und Kevin Dolan, zwei Marketingspezialisten, die ursprünglich eine neue Art von Werbekampagnen testen wollten. Mit den Vermarktungsstrategien, mit denen sonst Produkte beworben werden, wird also für die Hilfe von Obdachlosen getrommelt. Man kann das geschmacklos finden - oder einfach nur pragmatisch. Neben den Videos auf der Seite befindet sich ein Spenden-Button, wo man per Kreditkarte Geld an Edwards überweisen kann. Aufgrund des Medien-Rummels um Edwards hat eine Reha-Klinik sich mittlerweile bereit erklärt, für ihn die Kosten für eine Entziehungskur zu übernehmen.

"Pimp This Bump" ist dabei nicht der erste Versuch, Obdachlosen im Netz eine Stimme zu geben. In Großbritannien sorgte 2006 eine Frau für Aufsehen, die nach einer psychischen Krise ihre Wohnung verloren hatte und ein halbes Jahr in ihrem Auto am Rande eines Waldes lebte. Regelmäßig besuchte sie eine öffentliche Bibliothek und bloggte dort an einem Internet-Zugang unter dem Pseudonym "Wandering Scribe" über ihr Leben ohne Wohnung - und ihre Sorge, Passanten könnten ihr die Obdachlosigkeit sofort ansehen. Der Blog mit seinen detaillierten Schilderungen hatte so viele Leser, dass ihr ein Verlag schließlich einen Buchvertrag anbot und sie wieder eine eigene Wohnung beziehen konnte.

In Frankreich hat es Julie Lacoste, von Obdachlosigkeit bedrohte Mutter zweier Kinder, mit ihrem Blog "Un Temps de Retard" zu landesweiter Bekanntheit gebracht. Lacoste schreibt über die Probleme, mit zwei kleinen Kinder als Alleinerziehende eine bezahlbare Wohnung in Paris zu finden, von ständigen Umzügen von einer schäbigen Bleibe zur nächsten und ihrer Angst, eines Tages ganz auf der Straße zu stehen. In Frankreich ist man in der Blogosphäre auch schon einen Schritt weiter. Dort wird nicht nur über die konkreten Probleme von Obdachlosen geschrieben, sondern in vielen Blogs werden mittlerweile auch politische Lösungen diskutiert. Ein Anfang.


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