War was?

Jana Hensel Jana Hensel wurde mit "Zonenkinder" bekannt und wird seitdem immer nach der DDR gefragt. Mit Vorliebe an Jahrestagen. Dabei würde sie gern mal über etwas anderes sprechen

Jana Hensel: Bevor wir anfangen eine Bitte.

Der Freitag: Ja?

Können wir versuchen, ohne Zahlen auszukommen? Ich habe oft den Eindruck, dass ich in Interviews wie eine Politikerin erscheine. Es geht um ernste Dinge, aber ich versuche sie in meinen Texten aus dem Blick einer Autorin zu beschreiben. Wenn es in Gesprächen aber Widerspruch zu meinen Thesen gibt, versuche ich sie oft mit Zahlen und Statistiken zu unterfüttern. Das klingt dann nur schnell wie Ronald Pofalla.

Versuchen wir es ohne Statistiken. Frau Hensel, sind Sie eigentlich noch ein Zonenkind?

Nein, so würde ich mich heute nicht mehr bezeichnen. Ich war damals 24, 25 Jahre alt, als ich

Können Sie diesen Sprachverlust beschreiben?

Das erste Mal richtig bewusst wurde er mir, als ich im letzten Jahr an einer Radiodiskussion zu 18 Jahren Deutsche Einheit teilnahm. Außer mir war noch ein ehemaliger Oppositioneller eingeladen. Der Moderator hatte sich viele Fragen überlegt, die man alle aber schon tausend Mal gehört hatte. Er stellte sie, als wären sie ganz neu. Er wollte von mir wissen, was ich am Tag des Mauerfalls gedacht habe, was ich mir damals von der Zukunft erhofft habe. Es gab einen langen Moment der Stille. Ich hatte keine Lust zu antworten, weil ich einen Widerwillen spürte, meine Erinnerungen erneut in Worte zu fassen, die man schon so oft gehört hatte.

Woher kam dieser Widerwille?

Während der Moderator sprach, wurde mir bewusst, wie formel- und klischeehaft dieses Erinnern geworden ist. Wir haben die Bilder der Montagsdemonstrationen und des Mauerfalls unzählige Male im Fernsehen gesehen, in den letzten Jahren zu allen Gedenktagen und in diesem Jahr beinahe täglich. Ich kann diese Bilder nicht mehr sehen, die Erinnerungen nicht mehr hören. Sie haben sich verselbständigt und beginnen immer mehr, meine persönliche Erinnerung zu überlagern. Ich weiß langsam nicht mehr, was ich mit eigenen Augen und was ich nur im Fernsehen gesehen habe.

Macht Sie das wütend?

Wut ist ein zu großes Wort. Es macht mich eher traurig. Von der DDR ist ja außer Erinnerungen nichts geblieben. Deswegen spüre ich eine gewisse Traurigkeit, dass meine persönliche Erinnerung immer mehr von einer medial inszenierten verdrängt wird.

Das klingt jetzt ...

... ostalgisch? Der Vorwurf kommt immer schnell. Es ist beinahe unmöglich, als Ostdeutsche Kritik an der Gegenwart zu üben, ohne dass jemand denkt: „Du wünschst dir doch die DDR zurück.“ Mir eine Sehnsucht nach dem alten System zu unterstellen, empfinde ich aber als so absurd, dass ich keine Lust habe, jedes Mal zu erklären, dass dem nicht so ist.

Ich wollte eigentlich sagen: melancholisch. Die Beschreibung dieses Erinnerungsverlusts ist auch eine Medienkritik.

Ja, ich bin entsetzt darüber, wie wir – genauso wie schon nach 10 oder nach 15 Jahren Mauerfall – uns in diesem Jahr wieder nur in den alten Bildern und Erinnerungen suhlen, ohne nach der Gegenwart zu fragen. Unsere Gesellschaft zeigt eine erschreckende Ideenlosigkeit im Umgang mit diesem Jubiläum. Und die Medien auch. Was soll die dauernd wiederholte Frage: „Was haben Sie am 9. November 1989 gemacht?“ Wenn ich mit Ostdeutschen spreche, merke ich, wie genervt sie von dieser Trivialisierung und Reduzierung sind, gerade weil für viele von ihnen, genau wie für mich, die Wende einer der wichtigsten Momente ihres Lebens ist.

Jetzt wird vieles sogar noch einmal nachgestellt, die alten und neuen Erinnerungsbilder überlagern sich.

Furchtbar. Ich habe neulich mal wieder Hans-Dietrich Genscher gesehen, wie er 20 Jahre später zum hundertsten Mal auf dem Balkon der Botschaft in Prag steht und ergriffen ist von seiner eigenen Ergriffenheit damals – das ist Kabarett. Ich musste lachen, als ich ihn da gesehen habe. Diese Schauspielerei, echtes 89er-Theater.

Die Wirkung der medialen Wiederholungsschleifen geht, Ihrer Einschätzung nach, allerdings noch weiter.

Im Gespräch mit vielen Ostdeutschen habe ich das Gefühl, dass sie mir genau das erzählen, was ich abends, wenn ich ZDF oder RTL einschalte, auch zu sehen bekomme. Ich habe den Eindruck, sie übernehmen ihre eigene mediale Darstellung, ohne sie zu hinterfragen. Unbewusst erfüllen sie Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden.

Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch ein „Überschriebensein des Ostens“, zu viele Medienbilder, die den Blick auf die Menschen und die Gegenwart verstellen. Aber mit

Das ist ein unauflösbarer Widerspruch, in dem ich mich als Autorin befinde: Kann ich eigentlich gegen ein Überschriebensein mit einem neuen Buch anschreiben? Genauso wie ich immer noch auf Mauerfall-Podien sitze und dabei denke: Ich kann es nicht mehr hören. Es ist aber doch so: Ich finde in einem Diskurs nur statt, wenn ich mich daran beteilige. Sich zu entziehen, würde nicht die gleiche Aufmerksamkeit für mein Anliegen schaffen.

Gab es einen Moment, in dem Sie gesagt haben: Hätte ich

Nein, den gab es nicht. Ich habe das Buch geschrieben, weil mir aufgefallen war, dass damals niemand einen Unterschied zwischen einem 25-jährigen Ostdeutschen und einem 25-jährigen Westdeutschen machte.

Der Schritt in die Öffentlichkeit als verängstigende Erfahrung?

Ja, vorher war der Kreis derjenigen überschaubar, die sich eine Meinung über mich bildeten. Ich konnte an der Einschätzung meiner Person selbst mitwirken, auf die Menschen Einfluss nehmen, deren Meinung mir wichtig war. Das ist in der Öffentlichkeit anders. Auf einmal gibt es eine unüberschaubare Menge von Leuten, die was über dich zu wissen glauben. Ich musste lernen, diese Meinungen nicht alle beeinflussen zu wollen. Und ich musste lernen, dass Kritik an mir als öffentlicher Figur mit mir als Privatperson nichts zu tun hat.

Besonders umstritten war das „Wir“, das Sie in "Zonenkinder" benutzten ...

Eigentlich war es als Angebot zu einem Gespräch über gleiche Erfahrungen gedacht. Meine Bücher werben immer um den Mainstream, um eine möglichst breite Leserschaft. Ich schreibe nicht über abseitige Einzelschicksale, sondern ich versuche von Erfahrungen zu erzählen, die sehr viele Menschen betreffen könnten. Ich suche nach dem Allgemeinen in jeder Biographie.

Aber warum ruft das so scharfe Abwehrreaktionen hervor?

Ich glaube, dass wir heute unser Zusammengehörigkeitsgefühl durch einen großen Glauben an die Individualität herstellen. Das hat mitunter Züge einer Ideologie. Die Menschen glauben in allem, was sie erleben, einzigartig zu sein. In diesem Glauben aber bilden sie eine Gruppe, in der alle letztlich auch nur ähnliche Erfahrungen machen. Wenn man diese Gemeinsamkeiten dann aber darstellt, hagelt es Protest.

Den Umgang zwischen Jüngeren und Älteren beschreiben Sie nach wie vor als unterschiedlich in Ost und West.

Ich habe das Gefühl, dass wir Jüngeren im Osten eine größere Verantwortung für die älteren Generationen spüren als im Westen. In sehr jungen Jahren haben wir einen immensen Identitätsverlust der Elterngeneration miterlebt. Wir haben sie mit ihren Lebensentwürfen bereits einmal scheitern gesehen.

Über bestimmte Punkte wird in den Familien allerdings auch geschwiegen, schreiben Sie.

Es gab da ein einschneidendes Erlebnis für mich: Nach einer Lesung kam eine junge Frau auf mich zu, Anfang 20, und erzählte mir in einem längeren Gespräch, dass ihr Vater IM gewesen sei. Das hat mich sehr überrascht. Weniger die Tatsache an sich als vielmehr der Umstand, dass ich so ein Geständnis noch nie erlebt hatte, nicht in meinem Freundeskreis und auch nicht bei den vielen Lesungen, die ich in den letzten Jahren überall im Osten gemacht habe. Ich habe mich dann auf die Suche nach Kindern von IMs gemacht, weil mich interessiert hat, wie in den Familien damit umgegangen wird.

Was kam dabei heraus?

Die Recherche war niederschmetternd, ich erzähle davon in

Wie erklären Sie dieses Schweigen in den Familien?

Wenn heute jemand sagt, er hat für die Stasi gearbeitet, wird gesellschaftlich erwartet, dass man diesen Menschen verurteilt. Kinder wollen ihre Eltern aber nicht so sehen. Deswegen fragen sie gar nicht erst – und die Vergangenheit bleibt unaufgearbeitet zurück.

Das Erinnern an den Mauerfall in diesem Jahr ist ein Erinnern der Älteren. Es gibt praktisch keine Jüngeren, die sich zu Wort melden.

Es wird einem auch nicht gedankt, wenn man das tut. Meist heißt es, davon hast du keine Ahnung. Eine Perspektive der Jüngeren ist offensichtlich nicht erwünscht. Die Bürgerrechtler von 89 erinnern mich in ihrer Selbsthistorisierung dabei immer mehr an die 68er im Westen. Je weiter das Ereignis zurückliegt, desto ruhmreicher werden die eigenen Taten. Anders als bei den 68ern gibt es allerdings keinen kritischen Umgang mit dieser Generation.

Wie könnte diese Kritik denn aussehen?

Keiner der ehemaligen Bürgerrechtler – außer Wolfgang Thierse – hat doch die Chance genutzt, Sprecher der Ostdeutschen im Transformationsprozess zu werden. Alle bekannten Protagonisten der Wende sind nichts anderes als Sprecher ihrer selbst geworden. Ich glaube, dass da viele Möglichkeiten verpasst wurden, schließlich nimmt man sie doch als Autoritäten wahr.

Haben Sie eigentlich Angst, dass Sie – wenn wir in 20 Jahren den 40. Jahrestag des Mauerfalls haben – immer noch zu diesem Ereignis Interviews geben sollen?

Das wird es ganz sicher geben, und bis dahin wird sich die Erinnerung daran noch stärker formalisiert haben. Aber

Das Gespräch führte Jan Pfaff

Jana Hensel wurde 1976 in Borna bei Leipzig geboren und erlebte als Dreizehnjährige die Montagsdemonstrationen und den Mauerfall. Sie studierte Romanistik und Neue Deutsche Literatur in Leipzig, Marseille, Berlin und Paris. 1999 war sie Herausgeberin der Leipziger Literaturzeitschrift Edit. Bekannt wurde Hensel 2002 mit dem Erinnerungsband Zonenkinder, in dem sie sich an ihre DDR-Jugend erinnerte und ihre Erfahrungen mit der kulturellen Anpassung an die westdeutsche Gesellschaft beschrieb. Das Buch wurde zu einem Überraschungsbestseller und verkaufte sich bis heute mehr als 350.000 Mal. Außerdem löste es eine heftige Feuilleton-Debatte aus. Während manche Rezensenten lobten, dass Hensel den Kindern der Wende eine Stimme gegeben habe, kritisierten andere das Buch scharf. Auch der Freitag bemängelte damals eine nahezu reflexionsfreie Phänomenologie des DDR-Alltags. Nach ihrem Bucherfolg arbeitete Hensel als freie Journalistin. 2008 veröffentlichte sie zusammen mit Elisabeth Raether die Streitschrift Neue deutsche Mädchen. Am 9. Oktober 2009 erschien Hensels neuestes Buch: . Der Untertitel lautet: Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten. In dem Buch kritisiert Hensel, dass ein Sprechen über die Einheit allzuoft bedeute, die Menschen sollten alle gleich werden. Dies sei falsch, da in diesem Denken Ostdeutsche nur als Schrumpfform des Westdeutschen vorkommen. Als Westdeutsche, denen noch etwas fehlt. Statt ständig die große Gleichheit zu propagieren, solle man endlich anerkennen, dass die Erfahrungen im Osten nicht nur vor 1989, sondern auch in der Zeit danach andere als im Westen seien, schreibt Hensel. jap

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