Übertriebene Zahlen und verschwiegene Risiken

Hartz ante portas Wer die Dynamik des Arbeitsmarkts falsch deutet und Verdrängungseffekte nicht berücksichtigt, wird die Arbeitslosigkeit nicht halbieren

Zuerst die Elbeflut und dann die Irak-Diskussion haben die Hartz-Kommission von den Titelseiten verdrängt. Über den 350 Seiten umfassenden Abschlussbericht wird kaum noch berichtet, obwohl Bundesregierung, SPD und Bündnisgrüne unisono und ohne erkennbare Abstriche das Konzept quasi als arbeitsmarktpolitisches Wahlprogramm übernommen haben. Ihre propagandistische Funktion hat die Hartz-Kommission längst erfüllt - ob sich ihre Vorschläge allerdings nach der Wahl als realistisch und akzeptabel erweisen werden, ist mehr als zweifelhaft. Denn die teils innovativen, teils auch schon sehr detaillierten Ideen sind in eine Denkstrategie eingebettet, die nicht schlüssig ist und einen erschreckenden Mangel an gesamtwirtschaftlichem Denken erkennen lässt.

Zu Recht schreiben die Autoren des Berichts, dass die Zahlen, die sie präsentieren, nur eine Größenordnung angeben können. Zunächst fällt auf, dass es um eine Fülle neuer Maßnahmen, neuer Instrumente, neuer Institutionen geht, deren Konturen teilweise noch sehr schwammig sind, teilweise aber auch schon sehr konkret benannt werden. Dutzende Gesetze und Verordnungen müssten auf jeden Fall geändert werden - ein Prozess, der sich über Jahre hinziehen wird. Zudem sollen die Maßnahmen ineinander greifen und dadurch größere Wirkung erzielen. Nicht zu übersehen ist, dass es bei den Modellrechnungen (siehe Kasten) aufgrund unscharfer Abgrenzungen Doppelzählungen gibt. Entscheidend ist jedoch die ökonomische Logik. Im Gestrüpp der unzähligen Maßnahmen stecken die folgenden Denkansätze.

Dauer der Arbeitslosigkeit abkürzen: Der Bestand von vier Millionen Arbeitslosen resultiert derzeit aus etwa sieben Millionen Zugängen jährlich, ähnlich vielen Abgängen und einer durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit von 33 Wochen. Bei einer Verkürzung um vier auf 29 Wochen vermindert sich der Bestand an Arbeitslosen auf gut 3,5 Millionen. Nun kann man die Dauer der Arbeitslosigkeit nur senken, wenn man gegebene offene Stellen schneller besetzt, mehr offene Stellen schafft, vorhandene verstärkt mit Arbeitslosen besetzt oder die Arbeitslosen schneller wegdrängt: in Frührente, ins Ausland, in die Küche oder in andere Formen der Nicht-Erwerbstätigkeit. Hartz Co. wollen all diese Wege gehen - in teilweise erstaunlicher Überschätzung ihrer Kapazität. Die Dauer der Arbeitslosigkeit soll um ein Drittel (11 Wochen) verkürzt und der jährliche Zugang in die Arbeitslosigkeit um ein Viertel reduziert werden - aber wie?

Vermittlungstempo erhöhen: Nach Angaben des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gibt es derzeit einen Bestand von etwa 1,16 Millionen offenen Stellen, von denen knapp 0,5 Millionen bei den Arbeitsämtern gemeldet sind. Andere schätzen den Bestand offener Stellen auf 1,5 Millionen. Entscheidend ist jedoch, dass die "Vakanzzeit" offener Stellen mit durchschnittlicher 23 Tagen (Westdeutschland 27, Ostdeutschland nur 14) bereits sehr niedrig ist. Zwar dauert die Besetzung der Stellen länger, aber die Zeit, während der die Arbeitsplätze besetzt sein könnten (Vakanz), die "Neuen" jedoch noch nicht da sind, ist eben sehr kurz. Realistischerweise wird man durch Vermittlungsoffensiven die Arbeitslosigkeit kaum um mehr als 100.000 mindern können. Das sieht auch das IAB ähnlich.

Mehr offene Stellen finden und mit Arbeitslosen besetzen: Die Autoren des Berichts glauben, auch unabhängig von Konjunktur und Wirtschaftswachstum - zu diesem Thema schweigt die Kommission - offene Stellen in größerer Zahl aufspüren und durch Arbeitslose besetzen zu können, wenn nur die Arbeitsvermittlung ihre Job-Akquisition aktiviert und in Form von PersonalService-Agenturen (PSA) organisiert. Wenn dieses Kalkül tatsächlich aufgehen sollte, dann würden zwangsläufig Verdrängungsprozesse einsetzen: Da ein großer Teil offener Stellen normalerweise durch Menschen aus der "stillen Reserve", etwa Ausbildungsabsolventen und Hausfrauen, besetzt wird, würden diese nun in geringerem Umfang auf die knappen Stellen kommen. So ergäbe sich letztlich eine andere Vergabepraxis, aber keine Schaffung von Arbeitsplätzen. Überdies praktiziert der Hartz-Bericht riskante Analogie-Schlüsse: Da bisher rund 30 Prozent der Arbeitnehmer von Zeitarbeitsfirmen bei normalen Arbeitgebern "kleben" bleiben, wird diese Zahl umstandslos hochgerechnet. Wenn 500.000 Langzeitarbeitslose in eine PersonalService-Agentur übernommen werden, könnten angeblich rund 30 Prozent in normale Jobs vermittelt werden.

Ausgliederung von Arbeitslosen: Realistischer ist die Ausgliederung eines Teils der Arbeitslosen. Den über 55-jährigen Arbeitslosen sollen "Bridge"-Optionen gegeben werden, etwa die Option, aus der Arbeitsvermittlung auszusteigen und den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung vorab ausgezahlt zu bekommen. Würden alle 670.000 Arbeitslosen dieser Altersgruppe davon Gebrauch machen, sähe die Arbeitslosenstatistik viel schöner aus. Wer diese Option nicht wählt, kann sich alternativ für eine sogenannte "Lohnversicherung" entscheiden: Mann oder Frau akzeptiert einen niedrigeren Lohn und bekommt einen Teilausgleich vom Arbeitsamt. Auch bei der ausgeklügelten und hochbürokratischen Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln wird es Ausgliederungseffekte geben. All diese Strategien widersprechen allerdings fundamental den erklärten Zielen der europäischen Beschäftigungspolitik: Demnach sollte die im internationalen Vergleich niedrige deutsche Erwerbstätigenquote erhöht werden.

Zeitarbeit, Hartz´ Viagra der Arbeitsmarktpolitik: Zeitarbeit ist für die Hartz-Kommission geradezu eine Wunderwaffe, um die vermeintlich sklerotische Praxis der Arbeitsämter zu flexibilisieren und zu vitalisieren. Im internationalen Vergleich gibt es in Deutschland tatsächlich wenig Zeitarbeit, und die Zeitarbeitsfirmen sind bisher nicht als Großabnehmer von Arbeitslosen hervorgetreten. Warum sollte es in Zukunft anders werden, wenn staatliche Arbeitsämter Zeitarbeit organisieren? Wahrscheinlich wird diese Rechnung nur funktionieren, wenn auf die Langzeitarbeitslosen, um die es hier primär geht, Druck ausgeübt wird, von den Personal Service Agenturen (PSA) übernommen zu werden. Das ist die Logik der "aktivierenden Arbeitsmarktpolitik". Die PSAs werden ihre Arbeitslosen nur beschäftigen können, wenn sie marktübliche Löhne unterbieten. Hier wird spekuliert, dass durch niedrigere Löhne - besonders im Dienstleistungssektor - größere Arbeitsnachfrage entsteht. Alles hängt dann von der Lohnbildung der neuen Zeitarbeitsfirmen ab, und die ist noch lange nicht geklärt. An sich ist gegen Zeitarbeit als Instrument der Arbeitsmarktpolitik nichts einzuwenden. Die Frage ist nur, ob hier wirklich Beschäftigungseffekte entstehen und zu welchen Bedingungen - oder nur Scheineffekte, weil andere Menschen verdrängt werden. Hartz baut darauf, dass eine Lohnsenkung bei einfachen Dienstleistungen zu einer deutlichen Zunahme der Arbeitsnachfrage führt, ohne dass gegenläufige Entwicklungen an anderer Stelle eintreten.

Arbeitslosengeld II: Die Zumutbarkeit für die Akzeptanz offener Stellen zu verschärfen und mit härteren Sanktionen zu bewehren, ist ein bekanntes Element "aktivierender Arbeitsmarktpolitik". Wichtiger dürfte aber die Kreation "Arbeitslosengeld II" sein: Danach entfällt Arbeitslosenhilfe als Lohnersatzleistung und wird in die Hilfe zum Lebensunterhalt für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger integriert. Das Arbeitslosengeld II orientiert sich - wie Sozialhilfe - an der Bedürftigkeit. Über seine Höhe schweigt der Hartz-Bericht. In der Logik der Niedriglohnverfechter wird es sehr knapp bemessen sein müssen, damit Niedriglohnarbeitsplätze akzeptiert werden. Bleiben die Beschäftigungseffekte aus oder sind sie sehr gering, dominiert einzig die Einkommensverschlechterung für die Arbeitslosen.

Mit Ich-AGs und Mini-Jobs zur Legalisierung von Schwarzarbeit: In Deutschland gibt es, Schätzungen zufolge, fünf Millionen Vollzeit-Schwarzarbeiter, darunter auch viele Arbeitslose. Die wichtigste Gruppe in der "Schattenwirtschaft" sind die Putzfrauen - 3,3 Millionen. Hinzu kommt eine große Zahl schwarz arbeitender Handwerker. Gelänge es, einen relevanten Teil der Schwarzarbeit zu legalisieren und hier Arbeitslose einzusetzen, wäre, so scheint es, ein riesiges Volumen an offenen Stellen gefunden. Hartz will Schattenarbeit zu 40 Prozent austrocknen. Geringe Besteuerung und niedrige Sozialbeiträge werden als probates Mittel genannt. In Form von Ich-AGs sollen Arbeitslose und bislang schwarz Arbeitende nun legal arbeiten können. Natürlich schafft die Legalisierung von Schwarzarbeit keinen Deut mehr Arbeit für die Gesellschaft, die vorhandene wird bestenfalls neu verteilt. Wenn im Haushaltssektor Mini-Jobs bis 500 Euro zugelassen werden, wobei die Kosten von der Steuer abgezogen werden können und zugleich niedrige Sozialbeiträge gezahlt werden, dann mag es für einen Privathaushalt vorteilhaft sein, statt der illegalen Putzfrau nun eine Mini-Jobberin einzustellen, vielleicht eine Arbeitslose oder eine Zeitarbeiterin von der PSA. Aber zusätzliche Beschäftigung wird so nicht geschaffen, und die Gefahr, "normale" Arbeit in Mini-Jobs und Ich-AGs zu verlagern (Abrutsch-Effekte) wird im Bericht kaum erwähnt.

Etwas aus dem Rahmen der Kommissionsarbeit fällt der sogenannte "Job-Floater". Einerseits sollen kommunale Infrastrukturinvestionen in Ostdeutschland kreditfinanziert vorgezogen werden. Andererseits sollen Unternehmen zinsgünstige und staatlich verbürgte Kredite bekommen, wenn sie Arbeitslose einstellen. Auch wenn offen bleibt, wie der Job-Floater im Detail funktionieren soll und wie er mit anderen Instrumenten der Strukturpolitik verzahnt werden kann, ist dieser Ansatz zumindest eine diskutable Idee. Entscheidend aber ist das Versprechen, die Arbeitslosigkeit zu halbieren. Sie wird ein Wunschtraum bleiben, weil die Dynamik des Arbeitsmarkts falsch gedeutet wird, weil komplizierte Umschichtungs- und Verdrängungseffekte nicht berücksichtigt werden und weil die Hartz-Kommission gesamtwirtschaftliche Prozesse auf den Güter- und Kapitalmärkten vollständig außer Acht lässt. Die vorgegebenen Zahlen halten einer kritischen Prüfung nicht im Ansatz stand. Wohlgemerkt: es geht nicht um Details, es geht um die Größenordnung. Ohne bessere Konjunktur, ohne höheres Wirtschaftswachstum, ohne Arbeitszeitverkürzungen der verschiedensten Art lässt sich die Arbeitslosigkeit nicht halbieren. Wunderdoktor Hartz verdient Diskussion, aber Vertrauen in die verschriebene Rezeptur ist nicht anzuraten.


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