Nach den Angriffen auf das World Trade Center im vergangenen Jahr stand plötzlich auf jeder Tagesordnung: Religion. Völlig unvorbereitet musste uns das Thema allerdings nicht treffen, denn schon Mitte der neunziger Jahre war von einer "Wiederkehr der Religion" die Rede, war zu beobachten, dass Glaubens- und Kirchenfragen wieder an gesellschaftlicher Bedeutung gewannen. Und so schienen die Reaktionen auf die Ereignisse des 11. September nur deutlicher hervorzubringen, was sich langsam vorbereitet hatte. Die Freitag-Religions-Debatte stellt zwei Fragen: Wie verhalten sich Religion und Gewalt zueinander? Was ist aus der Säkularisierung unserer westlichen Gesellschaften geworden?
Endlich einmal eine zupackende Religionskritik in der Religionsdebatte, war mein erster Gedanke, als ich Theweleits Beitrag zur Religionsdebatte (Freitag 39) las. Ist es nicht an der Zeit, das allgemeine Gerede über kulturelle Differenzen und Toleranz hinter sich zu lassen, wenn religiöse Extremisten unterschiedlicher Art einen "Clash of Fundamentalisms" (Tariq Ali) heraufbeschwören, bei dem wir alle (und vor allem die Toleranten) verlieren? Müsste man sich nicht gerade darauf konzentrieren, eine religiöse Dynamik zu kritisieren, die jeden sozialen und politischen Konflikt reaktionär ausbeutet und unlösbar macht, indem sie ihn in eine mörderische Konfrontation zwischen "Gläubigen" und "Ungläubigen" verwandelt? Nicht nur die palästinensischen Selbstmordattentäter, sondern auch das Schwergewicht der "Christian Right" in der ideologischen Kriegsvorbereitung der USA führen vor Augen, wie dringlich es ist, das Instrumentarium der Religionskritik neu zu besichtigen und weiterzuentwickeln.
Mein zweiter Gedanke war, dass Theweleit das gerade nicht leistet. Dies liegt vor allem daran, dass er die Religionen, jedenfalls die monotheistischen, von vorneherein auf Herrschaftstechnik und Manipulationsmittel reduziert: "Instrument in den Händen von Gewitzten." Zwar verweist er am Ende des Beitrags auch auf den sympathischen Religiösen, aber das ist nachgeschoben und ohne Bedeutung für den Nachweis der grundlegenden Demokratiefeindschaft. Die schlagenden Beispiele kommen aus dem Bereich des Priestertrugs und des Terrors. Und es ist ja richtig: Religion war und ist auch dies, und nicht zu knapp. Freilich ist sie auch das Gegenteil, die Entlarvung des priesterlichen Betrugs, der Protest gegen die Herrschaft der Gewitzten, das Asyl der Verfolgten. Woher weiß Theweleit, dass Gott "nun mal kein Demokrat" ist? Gerade wenn die Götter der Schriftreligionen "von Menschen gemachte Wesen sind", wie er meint (warum eigentlich nur die verschriftlichten?), sind sie sehr Unterschiedliches, Gegensätzliches auch innerhalb derselben Konfession, Verdichtungspunkte im ideologischen Ensemble, die antagonistisch angerufen werden.
Religionen seien "potentielle Mordvereine", wo kein rigider verfassungsmäßiger Schutz "davor" bestehe, verkündet Theweleit. Gut gebrüllt, Löwe! Als ob das allgemeine Tötungsverbot nicht auch und frühzeitig in Religionen formuliert worden wäre. Außerdem kommt es hier zu einer eigenartigen Privilegierung der Religion: Im allgemeinen Verdrängungswettbewerb gibt es wohl kaum einen Zusammenschluss, der ohne rechtstaatlichen Schutz nicht zum "Mordverein" werden könnte. Was ist mit dem Wirtschaftsverein, der Partei, dem Stammtisch, der Familie?
Bibel und Koran sind bekanntlich Bücher, in die jeweils gegensätzliche soziale Standorte und Perspektiven eingeschrieben wurden und entsprechend der hegemonialen Kräfteverhältnisse auch wieder herausgelesen werden. Was bewegt Theweleit dazu, sie deshalb als "opportunistisch" zu bezeichnen? Bei ihm stehen die Religiösen sozusagen außerhalb der Religion und verfügen instrumentalistisch über sie. Aber so funktioniert religiöse Subjektkonstitution nicht, auch nicht bei religiösen Führern, die durch das ideologische Gewebe, in dem sie sich bewegen, gleichsam mit-produziert werden. Die manipulationistische Religionskritik fällt hinter Feuerbach zurück. Denn der hatte die Religion als idealisierende Projektion des menschlichen "Gattungswesens" und seiner unendlich-vielfachen Möglichkeiten begriffen und damit jedenfalls ihren utopischen Gehalt gespürt.
Ich möchte im folgenden zwei miteinander zusammenhängende Vorurteile in Frage stellen, die nicht nur die Religionskritik sondern auch die "wertorientierten" Vermittlungsversuche zwischen Religion und Moderne regelmäßig heimsuchen: zum einen die Vorstellung, man könnte die Religionsfrage überhaupt in der Gegenüberstellung von "säkularer Welt" und "Religion" behandeln; zum anderen die essenzialistische Idee, die Religion hätte selbst ein inneres Wesen, eine fixe Substanz, die man entweder für "krank" oder für "wertvoll" erklären könnte.
Ich glaube, Theweleit hat recht, wenn er sich dagegen wendet, den westlichen Säkularismus umstandslos mit der "Kryptotheologie" der globalisierten Geld- und Informationsströme gleichzusetzen. Die Menschenrechte gehen im Kapitalismus nicht auf. Aber für das starke Argument bei Jochen Hörisch, den er hier kritisiert, nämlich für dessen Hinweis auf die religionsförmige Funktionsweise des Geldverkehrs und seiner medialen Verheißungen, interessiert er sich nicht weiter. Stattdessen proklamiert er eine nicht weniger fragwürdige Gleichsetzung, indem er die Menschenrechte und vor allem die égalité als Besitzstand des "säkular-liberalen Weltbilds" behandelt, von dem aus "die" Religionen bequem zu kritisieren wären. So einfach geht das nicht. Immerhin hat zum Beispiel Martin Luther King die Geltung eben dieser Menschenrechte für die Schwarzen und Armen der USA damit begründet, dass wir alle "Kinder Gottes" sind.
Theweleit argumentiert in einer Anordnung, in der sich die "säkulare Welt" und "die Religion" gegenüberstehen. Aber diese Subjekte treten in der politischen Wirklichkeit so gar nicht auf, weder als Gegner noch als Dialogpartner. Machen wir die Probe: Als Zbiginiew Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, in einer berühmten Showveranstaltung Ende 1979 an der pakistanisch-afghanischen Grenze mit einer Kalaschnikow in der Hand die Mudshaheddin zum "heiligen Krieg" gegen die atheistische Sowjetunion aufrief - agierte er da als Vertreter der säkularen Weltmacht USA oder der Religion? In dem Symbolakt sind offenbar handfeste globalstrategische Interessen untrennbar mit der Entfachung eines religiösen Fanatismus verquickt, der sich, wie wir heute wissen, verselbständigte und gegen die übriggebliebene Hegemonialmacht terroristisch zurückgeschlagen hat.
"Säkulare Welt" und "Religion" sind ausgedachte Konstrukte, die eine Homogenität vortäuschen, wo keine ist. Jedes von ihnen ist von sozialen Gegensätzen und damit auch von gegensätzlichen Ethiken durchzogen. Auch sind sie wechselseitig auf vielfältige Weise ineinandergeschoben, so dass wir mitten im Religiösen auf die weltlichsten Bedürfnisse stoßen, während im modernen Kapitalismus das Geld wie ein Fetisch das Leben beherrscht und die Wirtschaft nur funktionieren kann, wenn sie über ihre Werbepsychologen unaufhörlich Heilsversprechen glücklichen Konsumierens in Umlauf setzt. Nicht umsonst hat Walter Benjamin den Kapitalismus als die vielleicht extremste "Kultreligion" beschrieben, die sich parasitär aufs Christentum aufgepfropft hat.
Schon beim frühen Marx stößt man auf eine starke Seite der Religionskritik, die man als "Querlegung" bezeichnen könnte. Die bekannten Religionsdefinitionen aus der "Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" sind eingebettet in den Appell an die linkshegelianischen Religionskritiker, ihre Fixierung auf die Religion aufzugeben und überzuwechseln von der "Kritik des Himmels" zur "Kritik der Erde", von der "Kritik der imaginären Blumen" zur "Kritik der trostlosen Kette", von der Kritik der Theologie zur Kritik der Politik. Tatsächlich wird die Religionskritik im weiteren Verlauf "quergelegt", indem sie in eine Ideologiekritik des Rechts, der Politik, der Moral und der klassischen politischen Ökonomie überführt wird. Das von uns Gemachte, das undurchschaubare Macht über uns gewinnt - dieses alte religionskritische Thema wird schließlich am Fetischcharakter von Warenform und Kapitalverhältnis dingfest gemacht.
Die Fruchtbarkeit eines solchen Terrainwechsels lässt sich noch an einem anderen Beispiel zeigen. Marx hat eine subversive Übersetzung der kantischen Moralphilosophie formuliert, der zufolge die Religionskritik mit dem "kategorischen Imperativ" endet, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". Natürlich kompliziert sich die vorgeschlagene Befreiungsethik sofort, wenn die entmenschlichenden Verhältnisse sich nicht so einfach "umwerfen" lassen. Aber sie führt eine Perspektive ein, die die Gesprächsanordnung grundlegend verändern hilft: kritisierbar werden religiöse und säkulare Ideologien, die die Vielen, auf deren Rücken die neoliberale Globalisierung ausgetragen wird, in verächtlichen Verhältnissen festzuhalten helfen. Aufnehmbar werden dagegen die verschiedensten Energien in religiöser wie nicht-religiöser Form, die zur Konstruktion eines plural zusammengesetzten Gegensubjekts beitragen. In der Befreiungstheologie hat man diese Perspektive als "befreiungs- und überlebenszentrierten Synkretismus" bezeichnet. Hier ist auch die Kunst gefragt, gewaltförmigen Konfliktzuspitzungen auszuweichen, die zur Stärkung der Herrschaftsmacht führen, eine Vermittlungs- und Versöhnungsfähigkeit also, die häufig immer noch von Kirchenvertretern wahrgenommen wird.
Zu Unrecht ist Marx davon ausgegangen, ein solcher kategorischer Imperativ würde die Religionskritik abschließen. Eher könnte man sagen, dass er sie neu eröffnet. Es ist vielfach gezeigt worden, dass die klassischen Kennzeichnungen der Religion als "Opium des Volks" (Marx) oder als kindlich-illusionäre "Wunscherfüllung" (Freud) überallgemein formuliert sind. Sie verfehlen, wie Ernst Bloch gegen Engels ausführt, das "Auftriebsmotiv", das die Religionen "so schmerzreich, bilderreich, hoffnungsreich erfüllt". In andere Schichten führt uns die Marxsche Religionsdefinition als "Seufzer der bedrängten Kreatur", bei der das Sprachmaterial - vermittelt über den Mystiker Sebastian Frank und Feuerbach - von Paulus stammt: Das Geschaffene ist der Nichtigkeit unterworfen, so dass es "seufzt und sich schmerzlich ängstigt bis jetzt", und auch wir selbst "seufzen in uns selbst und warten auf [...] die Erlösung unseres Leibes" (Röm 8). Es ist die tiefste Aussichtslosigkeit, aus der Paulus den Glauben an eine leibliche Auferstehung zu gewinnen versucht.
Wenn dieses Seufzen Religion ist, dann besteht ihre Kritik in der komplexen Aufgabe, Hoffnungslosigkeit in begründete und realistische Hoffnungen zu verwandeln - in ständiger Auseinandersetzung mit Wunsch-Illusion und dem Katzenjammer der Hoffnungslosigkeit. Es sollte deutlich geworden sein, dass Kritik in diesem ernsthaften Sinne nichts mit dem Runtermachen anderer Weltanschauungen zu tun hat. Eher bezeichnet sie eine konstruktive Aufgabe in dem Sinne, in dem Gramsci von der "kritischen Ausarbeitung" des bizarr zusammengesetzten Alltagsbewusstseins zu einer handlungsfähigen Kohärenz sprechen konnte.
Marx und Freud ist verborgen geblieben, dass auch innerhalb der Religionen religionskritische Traditionen entwickelt wurden, mit denen ein Bündnis nicht nur möglich, sondern dringend geboten wäre. So stößt man zum Beispiel in den Umbruchphasen der christlichen Kirchengeschichte immer wieder auf eine intensive Mobilisierung des "Glaubens" gegen die jeweils herrschende Religion: Wenn Paulus ihn gegen das "Gesetz" anruft, attackiert er keineswegs nur die religiöse "Gesetzesfrömmigkeit", sondern das politische Staatsgesetz (nomos) des Römischen Reiches. Die subversiv-kritische Bedeutung des Glaubens an Christus liegt darin, die Loyalitäten von den Herrschaftsträgern der Pax Romana auf den "Gott am Kreuz" umzupolen, in dem Nietzsche zu Recht eine "Umkehrung aller antiken Werte" erkannte. Auch beim frühen Luther und den (noch) verbündeten Reformatoren (Zwingli, Müntzer, Karlstadt) lässt sich beobachten, wie die Verbindung von Glaube/ Schrift "allein" in Verbindung mit dem allgemeinen Priestertum der Laien ein oppositionelles Bündnis gegen die etablierte Religion ermöglichte, das dann freilich im Bauernkrieg mit Luthers aktiver Unterstützung wieder zerschlagen wurde. Explizit ist die Religionskritik in der protestantischen Theologie bei Karl Barths "dialektischer Theologie" und Dietrich Bonhoeffers "religionslosem Christentum" angekommen. Wenn christlicher Glaube hier als "Teilnahme an der Ohnmacht Gottes in der Welt" verstanden wird, ist dies eine Ortsbestimmung, die mit dem von Theweleit festgeschriebenen autokratischen Herren-Gott nicht mehr kompatibel ist.
Hier sind die Karten der Religionskritik auf heilsame Weise durcheinandergeworfen. Der atheistische Anspruch, die Religion durch eine "wissenschaftliche Weltanschauung" zu ersetzen, hat sich als rationalistische Illusion erwiesen, die das Perspektivische des Denkens und seine Abhängigkeit vom Unbewussten verkennt. Das Religiöse ist nicht von einer einzigen Substanz bestimmt, sondern, wie andere ideologische Formationen auch, ein Kampfplatz widerstreitender Bestrebungen. Religionskritik wäre somit zur analytischen und praktischen Kunst weiterzuentwickeln, in religiösen sowie säkularen Ideologien zwischen den Funktionsweisen der Herrschaft und den Fähigkeiten zur demokratischen Selbstvergesellschaftung zu differenzieren.
Jan Rehmann ist Mitglied des Berliner "Instituts Für Kritische Theorie" (INKRIT) und lehrt am Union Theological Seminary in New York. Von ihm erschien u.a. Max Weber: Modernisierung als passive Revolution (1998) sowie die Artikel Antizipation, Charisma, Fatalismus und Glauben im "Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus" (HKWM).
Bisher in der Religions-Debatte:
Michael Jäger: Gott und die Katastrophen; über Religion und Revolution (Freitag 29). Jochen Hörisch: Wir gottgleichen Hirnhunde; über die Hybris der Religion (Freitag 31). Christina von Braun: Wort wird Fleisch; über Säkularisierung (Freitag 33). Wolfgang Eßbach: Religion oder Kultur; über falsche Kategorien in der Kultur-Religions-Debatte (Freitag 35). Eva Horn: Das Jahrhundert des Verrats; über Erlösung, Opfer und Loyalität (Freitag 37). Klaus Theweleit: Gott ist nun mal kein Demokrat; über Religion als Herrschaftstechnik (Freitag 39). Kuno Füssel: Rückkehr der Rachegottheit; über die archaische Opferlogik des Kapitalismus (Freitag 41); Wolfgang Ullmann: Der Nihilismus und seine Gebete; über die politisch instrumentalisierte Religion (Freitag 43)
In der nächsten Folge wird Frieder Otto Wolf eine Kritik an der "plumpen These von der ursprünglichen Religiosität der Gesellschaften" vornehmen. Im Anschluss an einen Beitrag von Elisabeth Samsonow wird Gerburg Treusch-Dieter dann unsere Religionsdebatte schließen.
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