Öresund statt Klondike

FIT FÖR SVERIGE? Von Brandenburg nach Südschweden - zum Arbeiten, nicht zum Angeln

Grau sind alle Farben des Raumes. Hellgrau die Tische und Stühle, dunkelgrau der Teppich. Und läge vor den Schülern nicht das leuchtend gelbe Meer aus Schwedisch-Wörterbüchern, der kleine Blumenstrauß auf dem Lehrertisch wäre der einzige Farbklecks. Heute ist Frauentag. "Sagen Sie auf Schwedisch: Ich möchte mit Brigitte sprechen", verlangt Heike Witte trotzdem streng. "Herr Schmidt?" - übersetzt, und aus seinem spitzen Mund purzeln holprige Ös und kehlige Os. Lehrerin Witte lächelt gütig.

24 Arbeitslose - vom Ökonom bis zum Zimmermann - werden hier im Neuruppiner Bildungszentrum des Handels "fit för Sverige" gemacht. Die meisten Kursteilnehmer sind um die 40, nur zwei Anfang 20, nur eine Frau ist dabei. Schon in der ersten Stunde mussten sie lernen, das einzige Wort, das alle zu kennen glaubten, sei ausgerechnet dänisch: Smörebröd. Nach 13 Wochen sollen sie soweit Schwedisch sprechen, dass sie ein achtwöchiges Praktikum überstehen und sich um einen Job bewerben können. Das Arbeitsamt zahlt, Lehrerin Witte hilft. Dabei ist sie eigentlich gar keine richtige Lehrerin. Aber weil sie schon seit der 7. Klasse Schwedisch gelernt, dann Nordistik studiert und später gelehrt hat, darf sie inzwischen schon den zweiten Kurs unterrichten.

Irgendwie hat sie den Job auch ihrem Mann Klaus zu verdanken - dem Chef des Technologie- und Gründerzentrums Neuruppin (TGZ). Alles begann vor einem dreiviertel Jahr im Gewerbepark der Stadt, als zwischen Produktions- und Lagerhallen in einem Fertighaus das NORDICenter eingeweiht wurde. Als Teil des TGZ soll es wirtschaftliche Kontakte zwischen Nordeuropa und Brandenburg schaffen und damit langfristig selbst Geld verdienen. Am Rande des kleinen Festaktes traf zufällig der Neuruppiner Arbeitsamtsvertreter auf den angereisten Amtskollegen aus Südschweden. Der eine suchte händeringend Arbeitsplätze, der andere ebenso dringend Arbeitskräfte. Allein in der Öresund-Region rund um die neue Brücke, die Schweden und Dänemark verbindet, müssen 36.000 neue Stellen besetzt werden. 75.000 - vor allem im Baugewerbe und im medizinischen Bereich - sollen es in ganz Schweden sein. Über derartige Probleme konnte der Brandenburger nur den Kopf schütteln. Bei etwa 12 Prozent Arbeitslosigkeit in Neuruppin und 16 in Nordwestbrandenburg hat er hier schließlich ganz andere Sorgen. Allerdings könnte man doch ... Ein Wort ergab das andere, der Plan wurde gesponnen: "Perspektive in Südschweden - Arbeitsamt hilft". Von da an standen die Telefone nicht mehr still. Im Oktober begann der erste Kurs. "Wir wollten da nicht lange pilotieren", sagt Rüdiger Conrad, Pressesprecher des Arbeitsamtes Neuruppin. Allerdings müsse sorgfältiger ausgesucht werden - manche könnten eben keine Fremdsprache lernen.

"Hur trivs du pa ditt jobb?", schreibt die Lehrerin an die Tafel und will natürlich wissen, was es heißt. "Herr Schmidt?" - könnte jetzt sagen: "Jag vill gärna tänka om saken" - was hieße, dass er über die Sache noch mal nachdenken wolle, doch das lernt er erst nach der Mittagspause. Herr Schmidt schweigt eisern. Alter Schülertrick: Irgendwann wird sie einen anderen fragen. "Wie fühlst du dich in deinem Job?" übersetzt ein wissend Nickender die schwere Lehrerinnen-Frage und hofft, bald selbst eine Antwort zu wissen.

"Früher wollte ich immer nach Kanada auswandern", sagt einer, Schweden sei ja ähnlich. - Öresund statt Klondike, neue Chance statt Goldrausch. Viele reden von Schweden wie vom Gelobten Land. Sozialer sei es dort, die Leute freundlicher, der Chef werde geduzt, man arbeite im Team, die Nachbarn hielten zusammen. Irgendwie ein bisschen wie früher. "Den Zahn muss man ihnen immer wieder ziehen", sagt Lehrerin Witte. Aus der Ferne sähe manches rosiger aus, außerdem warte auch in Schweden niemand auf die deutschen Gastarbeiter.

Deshalb bleibt Michaels Frau vorerst in Rathenow. Warum einen guten Job gegen eine ungewisse Zukunft eintauschen? Er selbst, Anfang 30, war bis vor kurzem Bauleiter im Garten- und Landschaftsbau. Jetzt will er es in Schweden versuchen. Natürlich fände er auch in den alten Ländern einen Job, er hatte sogar ein Angebot aus der Schweiz. Doch dann hörte er von Schweden. Die ostdeutsche Wirtschaftskultur zwinge ihn zur Flucht. Das Motto "Leben und Leben lassen" gelte hier ja gar nichts, sagt er, "ein einziges Hauen und Stechen".

Einer, der seinen Namen "wegen der Nachbarn und des Getratsches" lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, kennt dieses Lied nur zu gut. Er sucht schon lange einen Job als Elektriker. Eigentlich ist er Meister, seinen Traditionsbetrieb musste er jedoch schließen - "wegen der schlechten Zahlungsmoral". Arbeit fände er gewiss in Süddeutschland, "aber für 13,60 Mark die Stunde", sagt der Meister a.D., "mache ich denen doch nicht den Ossi."

So hat das Arbeitsamt Neuruppin kaum Chancen, arbeitslose Brandenburger nach Bayern oder Baden-Württemberg zu vermitteln. Gerade im Handwerk fehlt es dort an Leuten. Unternehmer locken mit Wohnungen, die Arbeitsämter von Dessau und Görlitz zahlen sogar mehrere Tausend Mark Prämie an Arbeitslose, wenn die nur den heimischen Arbeitsmarkt entlasten, sprich wegziehen. Aber nach Süddeutschland? "Da sind sich der Brandenburger und der Südschwede mental nun mal näher", meint Lehrerin Witte. "Es ist doch kein Geheimnis, dass die Brandenburger eng mit ihrer Scholle verbunden sind", so auch Rüdiger Conrad vom Arbeitsamt. Überhaupt versteht er die ganze Aufregung nicht. "Sogar das Kanzleramt hat schon angerufen und wollte wissen: ›Was macht ihr denn da?‹ ", erzählt Conrad fast ein bisschen stolz. Es konnte beschwichtigen, keineswegs gehe es darum, 20.000 Leute nach Südschweden umzusiedeln. Außerdem habe ja niemand behauptet, damit die Arbeitslosenquote gleich auf zehn Prozent zu senken. Erst recht nicht die Gegend "auszubluten". Das ginge ohnehin nicht bei den wenigen Plätzen im Schweden-Kurs.

Doch die Nachfrage ist groß. Selbst die Schwedisch-Sprachkurse der Volkhochschulen sind restlos ausgebucht. Heike Witte erklärt gerade, "Fackförening" heiße "Gewerkschaft". Weshalb "Är du fackmansluten" genau was heißen könnte? Die Klasse blickt angestrengt tief in die Bücher. Weil die Lehrerin so kurz vor "Schulschluss" niemanden mehr quälen will, beantwortet sie ihre Frage selbst: "Willst du Gewerkschaftsmitglied werden?" Darauf könnte man "Jag vill gärna tänka om saken" erwidern, um sich Bedenkzeit zu erbitten, denn die schwedische Gewerkschaft muss sich auch um Nichtmitglieder kümmern. "Sverige är socialt land", könnte die Lehrerin sagen und "Herr Schmidt?" - würde übersetzen, dass Schweden eben ein sehr soziales Land sei.

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