Zwangsarbeiter werden entschädigt. Soviel steht fest, auch wenn längst nicht alles Geld zusammen ist. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft hat von den insgesamt fünf Milliarden Mark, die sie sammeln wollte, zur Zeit gerade etwas mehr als die Hälfte aufgebracht. Zusammen mit den fünf Milliarden aus Bundesmitteln soll die Summe den nationalen "Versöhnungsstiftungen" und der Jewish Claims Conference überwiesen werden. Sie sollen die Anträge der Opfer bearbeiten und das Geld auszahlen. Ohne Reibungsverluste wird das nicht verlaufen. Schon Anfang der neunziger Jahre wurden in Osteuropa die "Versöhnungsstiftungen" gegründet, um 1,5 Milliarden Mark staatlicher Wiedergutmachung aus Deutschland zu verteilen. Zwar sei beispielsweise in Polen alles Geld vergeben, aber "noch immer hält man sich dort etwa 200 Angestellte", so Andreas Plake vom Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte. Und die Organisationen in Moskau und Kiew hätten ihren Anteil des Geldes noch gar nicht vollständig ausgeschüttet, kritisiert er weiter, "die sitzen drauf." Die Kommunikation mit den osteuropäischen Stiftungen ist schwierig. "Ksaschalenju tolko pa russki" - leider nur auf russisch, heißt es am Telefon auf die Frage, ob jemand deutsch spreche. Und in den Archiven deutscher Gedenkstätten, Firmen und Gemeinden, mit denen diese Stiftungen zusammenarbeiten sollen, sprechen nur wenige Russisch. Es mangelt an Dolmetschern und Experten. Die meisten ehemaligen Zwangsarbeiter sind alt und krank. Viele wissen heute so wenig wie damals, wohin sie verschleppt wurden. Viele können kein Deutsch, sprechen und schreiben Orts- und Firmennamen falsch. Doch ohne Nachweis keine Anerkennung - ohne Anerkennung kein Geld. An rund 50.000 verschiedenen Orten haben schätzungsweise 20.000 Firmen mehr als acht Millionen zivile Zwangsarbeiter beschäftigt. Dazu kommen etwa 500.000 KZ-Häftlinge. Die Schnipseljagd hat begonnen. Mussten Sie in Warschau umsteigen?" - Das ist die erste Frage an die ehemalige ukrainische Zwangsarbeiterin. "Njet." - Das ist der erste Hinweis bei der Suche nach Beweisen. Maritschka Schubarth fragt, die alte Frau aus der Ukraine antwortet. Schubarth hat alte Fahrpläne aus dem Archiv der Reichsbahn studiert und weiß: Wer in Warschau aus dem Zug getrieben und in einen anderen gepfercht wurde, kam nach Deutschland. Ohne Umsteigen ging die Reise nach Österreich. Egal wie - an der Endstation wartete die Sklaverei. Maritschka Schubarth hilft alten Menschen aus der Ukraine, Belege zu finden, die das beweisen. Belege, die sie dringend benötigen, um entschädigt zu werden - nach über 50 Jahren. Nach der langen Zeit des Verdrängens sollen sie sich nun genau erinnern. In welches Lager sind sie deportiert worden? Für welche Firma haben sie gearbeitet? Wann? Wie lange? "Die Lager lagen immer an der Bahn", sagt Maritschka Schubarth. "Zwangsarbeiter hin, Kriegsmaterial zurück." Auch die Bauern, bei denen Zwangsarbeiter dienten, wohnten unweit der Gleise. Deshalb fährt Maritschkas Zeigefinger über alte Streckennetzkarten immer der Bahnlinie entlang. Ihre Augen spähen nach einem Ort namens "Engel...". Bauer Butz, auf dessen Feld Maria Iwanowna zwangsweise arbeiten musste, wohnte dort - in "Engel ...". Mehr weiß Maria nicht. Die Arbeit war hart. Doch sie beschwerte sich nicht, weil Angst gefügig macht. Und wer sich nicht fügte, kam weg - Gestapo, Gefängnis, KZ. Maritschka Schubarth ist Ukrainerin, Schauspielerin, Ballettlehrerin und irgendwie auch Detektivin. Alles begann auf der Krim. Sie machte Urlaub mit Freunden. Als sich im Dorf herumsprach, dass Leute aus Deutschland zu Besuch seien, sprach man sie an. Es gab Wodka, Wein und ein Treffen mit ehemaligen Zwangsarbeitern, die ihr von Briefen erzählten, die aus Deutschland zurückkamen, weil die Adresse falsch war. Oder sie kamen nie zurück, weil sie niemand lesen konnte oder wollte. Viele ehemalige Deportierte können heute so wenig Deutsch wie damals. Die alten Leute baten Maritschka, Dokumente, Unterlagen, wenigstens Spuren zu finden. "Du kennst dich aus. Du weißt, wo man fragen muss", sagten sie. Für eine Mark erhält man 2,71 ukrainische Griwna. Für einen Monat erhält ein ukrainischer Rentner durchschnittlich 50 Griwna, oft verspätet bis zu einem halben Jahr. Und manchmal, wenn kein Geld da ist, gibt es Naturalien - ein Sack Reis als Rente. "Da überlegen sie sich, wie viele Briefe sie nach Deutschland schreiben", sagt Maritschka Schubarth. Sie nahm Notizen und Briefe mit nach Deutschland und machte sich, kaum zurück in Berlin, auf die Suche. Engel, Engel, Engelhartstätten. Der Ort liegt in Österreich. Über die Telefonauskunft gelangt sie an die Nummer der Gemeindeverwaltung. Die Sekretärin verspricht, sich zu kümmern. Tage und Wochen verstreichen, bis Maritschka erneut anruft und erfährt: Alle Familienmitglieder, die etwas gewusst haben könnten, sind verstorben. Sie beschwört die Angehörigen: "Es geht nicht um Geld oder Wiedergutmachung, es geht nur um einen Nachweis". Wenig später findet sich ein entfernter Onkel, der sich an Maria Iwanowna erinnert und das auch schriftlich bestätigt. Ob die nationale Stiftung "Verständigung und Aussöhnung" in Kiew das als Nachweis anerkennt, ist ungewiss. Unbürokratisch soll entschädigt werden, ist immer wieder zu hören, schnell und individuell. "Doch niemand spricht von den Problemen, als ehemaliger Zwangsarbeiter anerkannt zu werden", sagt Maritschka Schubarth. Ohne Nachweis keine Anerkennung. Ohne Anerkennung keine Entschädigung. So einfach liegen die Dinge, und doch so kompliziert. Trotzdem kann Wolfgang Gibowski, Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, darin kein großes Problem erkennen. Die Opfer seien schließlich bereits 1992 in den damals gegründeten "Versöhnungsstiftungen" registriert worden. Dass viele Anträge abgelehnt oder aus Unwissenheit gar nicht gestellt wurden, sagt er nicht. An ein Nachweisproblem glaubt er nicht. Im Gegenteil, Gefahr wittert Gibowski eher in auftretenden Fälschungen: "Die können nicht ausgeschlossen werden." Bei Kriegsende befanden sich Millionen von Sklavenarbeitern in Deutschland und den besetzten Gebieten. Plötzlich waren sie frei, aber fern der Heimat. Sie wollten einfach nur nach Hause. Dabei haben die wenigsten daran gedacht, sich von denen eine Bescheinigung ausstellen zu lassen, die sie jahrelang in Sklavenarbeit hielten. Die Mehrzahl der osteuropäischen Rückkehrer wurde in sogenannten Filtrationslagern vom KGB erfasst. Dabei versuchte der KGB auch, vermeintliche Kollaborateure und Deserteure herauszufiltern, um sie dann noch weiter in Richtung Osten zu bringen - weiter, als den meisten lieb war. Die für den KGB zentrale Frage: Wer hat sich feindlich gegenüber dem eigenen Land verhalten? Ganze Züge fuhren gleich durch bis Sibirien. Bei den Befragungen gaben viele darum nur ihre Landarbeit zu Protokoll und verschwiegen den Dienst in deutschen Fabriken. Sie erhielten ein Dokument mit ihren Angaben. Bereits bei der ersten Entschädigungswelle Anfang der neunziger Jahre erkannten die Stiftungen den KGB-Schein oftmals nicht an. Damals wurde über 200 bis 800 Mark entschieden. Heute geht es um bis zu 10.000 Mark. Maritschka Schubarth blättert in einem Ordner, prall gefüllt mit Briefen auf eng beschriebenem Schulpapier. Zur Zeit bearbeitet sie 130 Anfragen. Viele empfinden es als Demütigung, bei ihren damaligen Peinigern als Bittsteller aufzutreten. Sie klingen verzweifelt und sehen in Maritschka Schubarth die letzte Hoffung, denn sie nimmt sich auch der schier aussichtslosen Fälle an. Bei ihren Recherchen trifft sie immer wieder auf Mitstreiter in Heimatmuseen und Geschichtswerkstätten. Doch sie beklagt die fehlende Vernetzung, mehr noch, einige stünden buchstäblich in Konkurrenz zueinander. Schlechte Erfahrungen hat sie vor allem mit Archiven gesammelt. "In 50 Prozent der Fälle kooperieren die Leute, die andere Hälfte reagiert abweisend", sagt sie. Ein Gemeindearchivar hat ernsthaft vorgeschlagen, die Frau solle doch persönlich vorbeikommen und die 50 Mark Bearbeitungsgebühr gleich mitbringen. "Sonst bitte ich, von weiteren telefonischen Anfragen abzusehen." Maritschka Schubarth telefoniert und faxt, schreibt Briefe und reist, recherchiert in Archiven und trifft Menschen, die weiterhelfen könnten. Geld bekommt sie dafür keines. Bei ausnahmslos allen Parteien und vielen Vereinen hat sie vergebens um finanzielle Unterstützung gebeten. Außer dem Ratschlag, sich doch Prozente von der Entschädigungssumme auszahlen zu lassen, hat sie nichts bekommen. Geld gibt es nicht. Klarheit ist auch knapp, denn: Wie der hinreichende Nachweis aussehen soll, blieb bislang im Dunklen. In den verschiedenen Gesetzesentwürfen sind immer wieder andere Anforderungen genannt - immer unkonkret. Unter § 11 des in der vergangenen Woche verabschiedeten Stiftungsgesetzes heißt es: "Die Leistungsberechtigung ist vom Antragsteller durch Urkunden nachzuweisen." Zwar erlaubt das Gesetz auch Zahlungen, wenn der Anspruch "auf andere Weise glaubhaft gemacht werden" kann, allerdings wurden von den nationalen Stiftungen in der Vergangenheit daran so hohe Maßstäbe gesetzt, dass das Glaubhaftmachen einem Nachweis gleichkam. Andreas Plake vom Bundesverband für NS-Verfolgte beklagt: "Erst hieß es einfach, es müsse nachgewiesen werden. Dann hieß es, man müsse es glaubhaft machen. Und im letzten Entwurf ist davon die Rede, ein Dokument aus Arolsen sei genug." Arolsen - für viele ein magisches Wort verbunden mit Hoffnung und Hass. In der hessischen Kleinstadt Arolsen befindet sich der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes (ITS), in dessen Archiv abertausende Akten, Listen und Karteien aus der Nazizeit lagern. Doch der Betrieb des weltweit größten NS-Archivs ist heillos überfordert. Nicht erst seit den Entschädigungsverhandlungen droht der ITS in Anfragen zu ersticken. 250.000 gingen allein im vergangenen Jahr ein. Sie werden dort Jahre lagern, bis sie bearbeitet werden. Auch die Archive in den Gedenkstätten der ehemaligen Konzentrationslager werden mit Anfragen überschwemmt. Drei bis vier Briefe täglich erreichen zur Zeit allein die Gedenkstätte des ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück im brandenburgischen Fürstenberg. Alle Bitten um Nachweise gehen über den Tisch von Martin Rieser. Er ist 26 Jahre alt und österreichischer Zivildienstleistender. Er bearbeitet, was intern "Haftanfragen" genannt wird. Ein Brief kommt aus Simferopol in der Ukraine. Am 30. April 1942, erinnert sich Olga Komorenko, wurde sie von dort nach Deutschland deportiert und in ein Zwangsarbeitslager bei München gesperrt. Weil sie die Arbeit in der Rüstungsindustrie verweigerte, verschleppte man sie am 24. Oktober 1942 nach Ravensbrück. Sie war 17 Jahre alt und sie weiß noch, dass sie den roten Winkel und die Häftlingsnummer 14.603 getragen hat. Im Archiv der Gedenkstätte lagern weit weniger Akten, als man vermuten könnte. Zwar kannte unter den Nazis die Bürokratie keine Grenzen, doch um die Spuren der Verbrechen zu verwischen, gingen im Frühjahr 1945 ganze Aktenberge in Rauch auf. Anderes Material verteilte sich in den Nachkriegswirren in alle Richtungen. Allein, was in Arolsen über das KZ lagert, weiß in der Gedenkstätte niemand. Gerade einmal 60 Prozent der ehemals Inhaftierten könnten ermittelt werden. Immer wieder muss Martin Rieser Listen wälzen, Mikrofilme vor- und zurückspulen, Karteikarten blättern, Briefe schreiben. Doch für zusätzliches Personal reicht das Geld nicht aus. "Außerdem gehört das Ausstellen von Haftnachweisen nicht zu unseren Aufgaben. Eigentlich sind wir dazu auch nicht berechtigt", sagt Horst Severenz, Pressesprecher der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. "Wir machen das eher wegen der moralischen Verpflichtung." Martin Rieser beginnt seine Suche für Olga, wie immer mit einem schalen Beigeschmack. "Jetzt hängt es von mir vertrotteltem Zivi ab, ob dieses arme Mütterchen Geld bekommt oder nicht," sagt er. Doch die Angaben von Olga Komorenko kann er leicht überprüfen. Schnell tippt er die Nummer in den Computer, auf dem Bildschirm erscheint: "Zugangsliste vom 24. Oktober 1942, Nummer 14603, Haftgrund: politisch, Name: Komorenko, Olga, geb. 29.6.1925, Nationalität: Russin." Nach Namen zu suchen, ist weit komplizierter, denn es gibt zig Varianten, einen russischen oder ukrainischen Namen in lateinische Buchstaben zu übersetzen. Die vielen Fehler und Verwechslungen, die bei der Erfassung der "Neuzugänge" passierten, machen es heute häufig unmöglich, Spuren wiederzufinden. Dennoch gelingt es Martin Rieser, auf fast jede zweite Anfrage mit einem "Positivbescheid" zu antworten. Dann ist er erleichtert, weil er den Brief nicht nach Arolsen weiterleiten muss. Denn dort würde er jahrelang modern. "Ich habe Briefe von alten Ukrainern bekommen, die seit mehr als fünf Jahren auf Antwort aus Arolsen warten", sagt Maritschka Schubarth. Was bleibt, ist ein Rest Hoffnung, den Nachweis auf anderem Wege erbringen zu können. Doch es bleibt kaum mehr Zeit, denn die Zwangsarbeiter sind alt. Das weiß auch Maritschka Schubarth. Und so sucht sie umso fieberhafter nach dem winzigen Puzzleteilchen, das passt, damit den alten Menschen Glauben geschenkt wird.
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