Während der Operation liegt Dani Ploeger auf dem Fußboden und schaut an die Decke des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin. Ein Piercer schiebt ihm eine dünne Nadel unter die Haut und zieht einen Kupferdraht hindurch – einmal, zweimal, dutzendmal. Am Ende sind es 22 Schlaufen. Und es sieht so aus, als ob der flach auf dem Boden liegende Mann nach einer Bauchoperation gerade wieder zugenäht worden wäre. Kleine Blutstropfen quillen aus den Wunden. Der Piercer klebt dem Mann mit Sekundenkleber eine Computer-Platine über den Bauchnabel, lötet die beiden Enden des Drahts daran fest und schließt sie an eine Batterie an.
Dani Ploeger, der Mann mit dem Schaltkreis auf dem Bauch, weiß, wie man Aufmerksamkeit produziert.
Schon für die Vorbereitung seiner Performance auf dem Medienkunst-Festival Transmediale hat der Fernsehsender Arte ein kleines Kamerateam geschickt. Die Fernsehleute filmten detailliert, wie der Piercer die Drähte in Ploegers Bauch einfädelt. Auf einer Ausstellung mit vielleicht hundert Künstlern, über die oft nur in Blogs berichtet wird, wirkt der Besuch eines Arte-Teams so wie ein ZDF-Übertragungswagen bei der Bürgermeisterwahl in Worpswede. Jetzt laufen ein paar Szenen des Films in einer Endlosschleife auf einem Bildschirm an der Wand. Daneben steht auf einem kleinen Schildchen, wie im Museum, Ploegers Name, der Name des Piercers – und die Zeiten, zu denen der Operierte leibhaftig zu besichtigen ist.
Der Künstler zeigt sich gern
Vier Tage dauert die Medienkunst-Ausstellung. Jeder Künstler soll täglich für ein paar Stunden persönlich anwesend sein, so sieht das Festivalkonzept es vor. Ploeger – Nasenring, seitlich abrasierte Haare – steht von morgens bis abends da. Und er erklärt den Besuchern seine Kunst: „Das ist Elektroschrott aus Nigeria. Wenn Strom durchfließt, wird der Draht elektromagnetisch. Aber ich bin kein Hightech-Cyborg, der mit Implantaten zu einem immer besseren Menschen werden will. Ich frage, was mit unserer Technik passiert, wenn wir nach zwei Jahren damit fertig sind. Deswegen habe ich in Nigeria Elektromüll gekauft und ihn in meinem Körper verbaut.“
Die Besucher schauen sich den Draht an, schauen sich den Mann an und können es kaum fassen. Einige Zuschauer fotografieren Ploeger mit ihren Handys, andere mit Spiegelreflexkameras. „Eigentlich ist mein Finger so viel komplexer als dieses blöde Stück Draht,“ sagt Ploeger. „Aber weil der Draht sich in meinem Körper befindet, ist er plötzlich etwas Besonderes.“
Der Niederländer ist ein Profi in Sachen Performance-Kunst. Er leitet den Performance-Zweig der Central School of Speech and Drama der Universität London. Die meiste Aufmerksamkeit – und das meiste Kopfschütteln – erntete er bislang für eine Performance mit dem Titel Electrode aus dem Jahr 2011. Damals führte er sich live vor Zuschauern eine dildoförmige Elektrode in den Hintern ein. Eigentlich wird mit solchen Geräten Inkontinenz behandelt. Breitbeinig, nackt und mit einem weißen Kabel zwischen den Beinen stand Ploeger da, mit hochkonzentrierter Miene. Durch das Anspannen verschiedener Muskeln erzeugte er mit dem umgebauten Gerät elektronische Klänge. Die bekam das Publikum verstärkt zu hören. „Der Jimi Hendrix des Schließmuskels“, nannte ihn daraufhin eine tschechische Zeitung. „Bei dem Stück waren zwei Arschlöcher zu viel auf der Bühne“, schimpfte das britische Avantgarde-Magazin The Wire.
"Gebrochene Hyper-Maskulinität"
Wenn man Ploeger fragt, woher er die Idee zu diesem Kunstwerk hatte, erzählt er vom Kontrast zwischen alten und jungen Menschen, von der Bedeutung der Nacktheit – und vom gezielten Brechen einer eigentlich sehr machohaften Körperhaltung durch das Tabu-Thema „anale Penetration“. Ploeger nennt das Prinzip „Gebrochene Hyper-Maskulinität“.
Vor allem beschäftige er sich mit Geschlechterrollen und Genderfragen, sagt er. Zunächst verstärkte er seinen Herzschlag, mit einem Gerät, mit dem schwangere Frauen eigentlich den Herzschlag ihres Babys hören sollen. „Eine Freundin hat mir dann gesagt, ich müsse mir auch mal ein elektronisches Gerät einführen – wie Frauen es beim Gynäkologen erleben.“ So kam es zu der umstrittenen Schließmuskel-Performance.
Hat er sich nie geschämt? Oder Angst verspürt, bei solchen Aktionen? „Der Moment des Zweifelns kommt vorher“, sagt er. „Das ist wie beim Piercing: Ist der Prozess schon in Gang, frage ich mich nicht mehr, was ich davon halte. Kunst ist da wie ein schützender Rahmen.“ Verpackung und Beipackzettel der eigentlich ja medizinisch verwendeten Elektrode lagen bei der Schließmuskel-Performance wie zufällig auf dem Boden verstreut. Aber Ploeger hatte Pappe und Papier vorher sorgfältig platziert. Präzision und Hingabe, sagt er über sich selbst, habe er bei den Berliner Philharmonikern gelernt.
Er kommt aus Oost Souburg, einem Dorf in der niederländischen Provinz Zeeland. Sein genaues Alter will er nicht verraten. 1997 schloss er die Schule ab, danach studierte er am Königlichen Konservatorium Den Haag Posaune. Als einer der besten Nachwuchsmusiker schaffte er den direkten Sprung an das Stuttgarter Staatstheater. Nach eineinhalb Jahren wechselte er von dort an die Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker.
Studierende werden dort von einem Mitglied der Philharmonie persönlich ausgebildet – und sie spielen gelegentlich selbst schon bei großen Konzerten. Die Eltern betrachteten die Karriere des Sohnes mit zwiespältigen Gefühlen: Er war der erste in seiner Familie, der es an eine Universität geschafft hatte. Aber Musik ist nicht unbedingt ein Gebiet, in dem mit einem soliden, regelmäßigen Einkommen zu rechnen ist.
"Frieden durch Musik" in Ramallah
Der Sohn hält ohnehin nicht viel von Sicherheit – und zieht schon bald von Berlin nach Ramallah, um palästinensische Kinder zu unterrichten, nach dem Prinzip: „Frieden durch Musik“. Während der zwei Jahre in Ramallah wird Ploeger die künstlerische Perspektive, die der klassische Musikkanon bietet, aber zu eng. Immer öfter, immer intensiver beschäftigt er sich stattdessen mit Performance-Kunst.
Dada, Mossad und Adorno
Ramallah liegt etwa 15 Kilometer nordwestlich von Jerusalem. Für eine Aufführung lädt Ploeger eines Tages Freunde in seinen Wintergarten mitten in der Stadt ein. Sie können von dort aus beobachten, wie er barfuß auf dem Platz vor dem Haus herumläuft und Gurken aus einem Wäschekorb verteilt. „Es ging um die Entfremdung von Alltagsgegenständen und war ein bisschen Dada“, sagt er. Die Polizei der Palästinensischen Autonomiebehörde hat aber kein Verständnis für Dada-Kunst. Mehrere Polizisten packen ihn, werfen ihn auf den Boden und wollen ihn als israelischen Spion verhaften.
„Ein Ausländer, der so verrückte Sachen macht, muss ja vom Mossad sein,“ erinnert sich Ploeger. „Ist auch klassisch Adorno: Die Freiheit der anderen macht Angst.“ Erst seine palästinensischen Freunde können die Sache aufklären, sie überzeugen die Polizisten, dass es sich nur um Kunst handelt. Später erzählt man sich in Ramallah, ein nackter, betrunkener Ausländer sei auf dem Marktplatz durchgedreht.
Nach den zwei Jahren in Palästina zieht Ploeger nach England. An der University of Sussex promoviert er über ein Thema, das mit Musik gar nichts mehr zu tun hat: über die Interaktion von Geräten und Körpern in der Kunst.
Mit dem Stadtbus zum Piercer
Die Berliner Performance ist vorbei. Ploeger sitzt in einem Stadtbus der BVG. Mit einem Loch im T-Shirt, durch das man den Draht auf seiner Haut sehen kann. Seine Freundin hat ihn vom Haus der Kulturen der Welt abgeholt, sie begleitet ihn zum Piercer. Der soll die Kupferdrahtkonstruktion jetzt wieder aus dem Künstler heraus montieren. Einige Menschen im Bus können sich neugierige Blicke nicht verkneifen. Sie schielen herüber, schauen schnell wieder weg. Ihren Gesichtern ist anzusehen, was sie denken: „Vielleicht ist es ja etwas Medizinisches.“
Ploegers Freundin ist eigentlich Schauspielerin, sie promoviert aber gerade über das Zusammenleben eingewanderter Tierarten. Während er gern über das Wesen des Freaks in all seinen Facetten redet, etwa über die Rolle des „Selfmade-Freaks“ in der Gesellschaft oder über die „Freakshows“ des 19. Jahrhunderts, bei denen Menschen mit körperlichen Missbildungen zur Unterhaltung des Publikums vorgeführt wurden, wirkt seine Freundin etwas geerdeter. Sie betrachte das alles aus einer „posthumanistischen Perspektive“, sagt sie.
Erlebt man die beiden zusammen, wirken sie wie das Klischee eines PhD-Pärchens aus einer US-Campus-Komödie: Alles, was gesagt wird, muss sofort gemeinsam noch einmal gedreht, untersucht, kommentiert, diskutiert und eingeordnet werden. „Klar, es ist manchmal ein bisschen abgedreht bei uns“ sagt Ploegers Freundin. „Aber keine Sorge: Das Nudelwasser gießen wir nach dem Spaghettikochen genauso ab wie alle anderen Menschen auch.“
Für das Nudelwasser mag das stimmen. Beim nächsten Performance-Projekt, das Ploeger im Sinn hat, wird es aber doch wieder anders zugehen als bei „anderen Menschen“. Deshalb müssten er und seine Freundin da auch noch mal drüber reden, räumt der Künstler ein. Sein Ziel ist jetzt nämlich: Long-Distance-Sex mit einem Pornostar aus Australien, verbunden via Webcam, Sensoren und – wiederum – einem Elektrodildo.
Bei dem Pornostar handele es sich um eine Freundin, sagt Ploeger. Diese werde am anderen Ende der Welt Sex vor einer Webcam haben. An ihrer Hüfte werden Sensoren angebracht sein, die die Bewegungssignale übers Internet auf einen Elektrodildo zu ihm nach England übertragen, erklärt Ploeger. So dass er, der Künstler, also von dem künstlichen Phallus begattet werde – natürlich in Echtzeit.
Ewige Dildogeschichten
Wenn man sich all diese Dildogeschichten eine Weile angehört hat, kommt man unweigerlich auf einen nicht ganz so künstlerischen Gedanken. Vielleicht will da einfach jemand nur seine eigene, recht eigenwillige Sexualität im Lichte der Öffentlichkeit zelebrieren? Und Zweifel schleichen sich ein: Könnte es sein, dass der Gender-Begriff manchmal auch einfach missbraucht wird, um etwas als Kunst aufzublasen? Ploeger erklärt das alles in schön komplex klingenden Sätzen, wie sie in der Kunstszene üblich sind: Bei dem Long-Distance-Sex-Projekt gehe es darum, dass der Pornostar gleichzeitig Objekt und Subjekt sei. Und ein Stipendium habe er für die Sache auch schon.
Eine Sekunde Energie, zwei Sekunden Pause: In diesem Rhythmus wurde auf der Transmediale Strom durch den Draht in seinem Bauch geleitet. „Eine Sekunde Licht, zwei Sekunden Pause: So kommuniziert auch der Leuchtturm in meinem Heimatdorf“, sagt Ploeger. Kürzlich besuchten seine Eltern zum ersten Mal eine Ausstellung mit einem seiner Werke. Eine von ihm programmierte App war da zu sehen: Sie zeigt ein Nacktbild von Ploeger. Wenn man langsam über den Bildschirm streicht, bekommt der Künstler – Überraschung! – eine Erektion. Sein Vater habe die App ausprobiert. „Ich muss ja mal prüfen, ob das auch funktioniert“, habe er dazu nur gesagt.
Fluxus, Dada, Digicam: Performance-Kunst ist oft politisch
In den sechziger Jahren erlebte die Performance-Kunst ihre erste Blütezeit. Man sprach damals auch von „Aktionskunst“ oder „Happenings“, zu den bekannten Vertretern zählten Andy Warhol, Valie Export oder Nam June Paik. Viele performative Happenings waren damals stark mit politischen Inhalten aufgeladen. Das galt etwa für die Bewegung der Situationistischen Internationalen, die sich in den späten 50er Jahren in Europa formiert hatte. Als Situationisten verstanden sich scharf links denkende Intellektuelle, die es vorzogen, in anonymen Kollektiven zu arbeiten. Sie veranstalteten Ausstellungen, verbreiteten Schriften, entwickelten eine „Kommunikationsguerilla“.In den USA formierte sich derweil die Fluxus-Bewegung, die deutlich populärer auftrat. Ein berühmtes Beispiel ist das „Bed-in“, das Yoko Ono, die ungekrönte „Queen of Fluxus“, und John Lennon 1969 erst in einem Hotel in Amsterdam, dann in Montreal veranstalteten: Das Paar ließ sich in einem Bett filmen, in weißen Nachthemden und mit offenen langen Haaren, im Hintergrund hingen Schilder mit den Wörtern „Hair Peace“ und „Bed Peace“. Ono und Lennon wollten damit gegen den Vietnamkrieg protestieren. Die Idee der „Bed“-Performance hatten sie sich von der New Yorker Künstlerin Lil Picard geborgt, die schon 1964 Ähnliches veranstaltet hatte.Bis heute berufen sich Performance-Künstler auf die Tradition des Dadaismus aus den Anfängen des 20. Jahr-hunderts. Inzwischen wird aber oft Video- und digitale Technik eingesetzt. Zu den bekannten zeitgenössischen Performance-Größen zählen Marina Abramovic und Miranda July, Christo und Jeanne-Claude, das Gob Squad – und natürlich Christoph Schlingensief. KK
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