Da erschien Peer Steinbrück für Nils Minkmar ganz groß. Nirgends, schreibt er in seiner nun erscheinenden Langreportage Der Zirkus. Ein Jahr im Innersten der Politik, kam Steinbrück dem Glanz seiner Kanzlerkandidatur, wie sie hätte sein können, so nahe wie an diesem Abend im August.
Schauen wir uns die Szene einmal genauer an: Peer Steinbrück hatte gute Laune. Am Wochenende zuvor hatte die SPD am Brandenburger Tor Geburtstag gefeiert, und alle hatten ein Bad in der Menge genommen. Alte Zeiten wurden lebendig. Nun trat Steinbrück auf einer Veranstaltung der linksliberalen, unternehmerfreundlichen Karl-Schiller-Stiftung auf. Als „nervenstarker Jongleur großer Zahlen, der auch den Wert intakter Autobahnbrücken zu schätzen weiß“, wie Minkmar, seit 2012 FAZ-Feuilletonchef, schreibt. „Ein Mann, der die Unternehmer mag und dem sie ihre Sorgen anvertrauen.“
Seine Rede dort widmet sich der Vergangenheit, der westdeutschen versteht sich. Früher seien ja Wahlkämpfe noch mit wirtschaftspolitischen Themen bestritten worden, zitiert Minkmar den zurückblickenden Steinbrück. Heute dagegen lege sich ein intellektueller Nebel übers Land, in dem die Kanzlerin stolz darauf sei, auf Sicht zu fahren. Minkmars Resümee: „Wenn Steinbrück an damals erinnert, an die Klarheit, auch die Anstrengung der Verhältnisse, wirkt er erst recht wie ein Mann aus einer anderen Zeit. Vielleicht einer besseren.“
Mitfühlender Sozialdemokrat
Es ist seit ein paar Jahren guter Brauch, dass Publizisten Politiker bei ihrer Arbeit begleiten und Bücher darüber schreiben. Je schneller die Medien werden, desto größer scheint die Sehnsucht nach entschleunigter Lektüre. Die französische Dramatikerin Yazmina Reza hatte seinerzeit eines, das ein bisschen zu intim wurde, über Nicolas Sarkozy geschrieben. Frühmorgens, abends oder nachts hieß es. Auch Dirk Kurbjuweit, der Spiegel-Autor und Romanschriftsteller, hat schon lange vor der diesjährigen Flut von Merkel-Porträts, von denen wohl keines so recht in Erinnerung bleiben wird, ein kleines, nachdenkliches und im besten Sinne feuilletonistisches Buch über die Kanzlerin für alle? veröffentlicht.
Nils Minkmar reiht sich darin ein und schert doch aus mehreren Gründen aus: Er liefert sein Buch nicht vor der Wahl, sondern danach und versteht es nicht als eine Wahlanleitung. Ihn interessiert der Zustand der Sozialdemokraten, und die hatten sich nun einmal in einem recht eigenartigen Procedere für Peer Steinbrück entschieden. Es ist anzunehmen, dass Minkmar auch jeden anderen Kandidaten begleitet hätte. Über Sigmar Gabriel jedenfalls verliert er kein böses Wort.
Er schreibt nicht über einen Sieger, sondern über einen Verlierer. Das gibt seiner essayistischen Reportage fast literarische Züge. Der Loser ist eigentlich eine Romanfigur. Minkmar verlässt auch seinen Beobachterposten und bekennt sich als mitfühlender Sozialdemokrat. Man kennt das aus Deutschland bisher wenig, und auch unter den namhaften Publizisten seines Alters fällt einem nur noch der Welt-Mann und (leidende) FDP-Fan Ulf Poschardt ein, der sich parteipolitisch so eindeutig verortet.
Und Nils Minkmar schreibt über sich. Der Mittvierziger, der im roten Saarland aufwuchs, sucht auch sich selbst im Gewühl des Steinbrück’schen Wahlkampfes. Immer wieder webt er seine Biografie, seine politische Sozialisation in den Text. Das kann, wer will, ein wenig größenwahnsinnig nennen, aber es zwingt den Autor zu Ehrlichkeit. Und die erhellendsten Momente des Buches ergeben sich, wenn Minkmar seine Herkunft und die Steinbrücks als die zweier Männer verschiedener westdeutscher Nachkriegsgenerationen miteinander verschraubt.
Dann wird sichtbar, was wohl viele als legitimen Fortschritt verstehen – denn Fortschritt im Sinne einer humanistischen Verwaltung der Gegenwart ist das, was Minkmar von seiner Sozialdemokratie erwartet: Die Linien der eigenen Vergangenheit sollen sich als Lehren in die Zukunft schreiben. Politik als historische Selbstverortung.
Die große Erschöpfung
Noch eine andere Schlüsselszene, diesmal aus Kamen: Der Kandidat spricht in der im Osten des Ruhrgebietes liegenden Stadt vor den Gewerkschaften. Wieder hält Steinbrück, schreibt Minkmar, eine seiner besten Reden, denn in diesem erdenen, geradlinigen, fast möchte man sagen, analogen Biotop fühlt er sich wohl: „Er verspricht keine Revolutionen und den Himmel auf Erden, sondern das, was es schon mal gab in den ersten Jahrzehnten der Republik: ordentlich bezahlte Arbeit, Mieten, die noch etwas vom Leben übrig lassen, lebendige Vereine, sozialer Zusammenhalt, gepflegte Grünanlagen und gute Aussichten für die Kinder.“
Interessant bei all dem ist, dass für Nils Minkmar die Frage, wie aus dem Medienliebling Steinbrück das Medienproblem mit all den Debatten um Vortragshonorare, Höhe von Kanzlergehältern, Clowns aus Italien und Stinkefingern wurde, nicht weiter von Belang ist. Er schiebt die Schuld auf die Journalisten. Lässt aber auch offen, ob er je an einen Sieg Steinbrücks, auch wenn er ihn sich sicher gewünscht hätte, geglaubt hat. Für Minkmar haben nicht nur der zurückliegende Wahlkampf, sondern auch der Zustand der Sozialdemokratie und die öffentlichen Debatten einen hohen Grad an Erschöpfung erreicht. Diese Erschöpfung, wohl ein Ergebnis der komplexen Finanz- und Eurokrise, legt sich derart über alles und verhindert, dass die größten Aufreger, die sich im Wahlkampf ereigneten, die Hoeneß-Steueraffäre und der NSA-Skandal, nicht auch zu Themen des Wahlkampfes wurden.
Der Zirkus ist eher die Geschichte einer Entfremdung, eines An-den-Rand-Rutschens. Es ist die Erzählung der verloren gegangenen kulturellen Hegemonie Westdeutschlands. Sozialdemokratie und BRD werden dabei gleichsam zu Synonymen einer Welt, aus der zumindest im Moment keine Sieger kommen können. Wenn Minkmar den Kandidaten auf seinen vielen, oft wenig sinnstiftenden Wahlkampfterminen in die Provinz begleitet und davon anrührend erzählt, dann scheint er sich einfach keinen Reim darauf machen zu können, was er da sieht: Warum macht ein Mann wie Peer Steinbrück, obgleich er alles genau so macht, wie er es immer gemacht hat, plötzlich alles falsch? Wie konnte es passieren, dass er über „Monate hinweg“ zu einem „Dödel“ wurde?
Denkt man das weiter, und greift man Minkmars im Buch leicht despektierlich geäußerten Gedanken auf, dass diese Welt zwar nicht die Berliner Mitte, wohl aber immer noch die „kulturelle Mitte“ des Landes ausmacht, dann befindet man sich schon mitten in einem Kulturkampf um die Deutungshoheit der deutschen Geschichte nach 1945. Als das Fanal des Untergangs, als der größte gemeinsame Gegner erscheint dabei Angela Merkel, die ja letztlich Schuld hat an all dem intellektuellen Nebel, der sich übers Land legt. Obgleich sie von dieser sogenannten kulturellen Mitte aus den westdeutschen Ländern soeben in großen Zahlen wiedergewählt wurde, lässt sie sich in die Linien der Minkmar’schen Vergangenheit nicht hineinschreiben. Und wahrscheinlich deshalb nimmt mit ihr seine Nachkriegserzählung ein, glaubt man dem Autor, vorerst verstörendes Ende.
Auch dafür gibt es eine Schlüsselszene, und die spielt wieder in Berlin. Die Stadt erscheint Minkmar an diesem Abend „noch verwahrloster und unregulierter als sonst“. Dann wird er Zeuge, wie eine Frau und zwei Mädchen, „eigentlich Kinder“, festgenommen werden: „Egal, was die Mädchen ausgefressen haben, es ist ein widerliches Bild. Kräfte walten so roh wie möglich, an zivilisatorischen Einhegungen verlieren die Leute zunehmend das Interesse, als sei das zuviel verlangt, zu viel Mühe.“ Das schmeckt dann fast ein bisschen nach Kaltem Krieg. Aber wie gesagt, Nils Minkmar hat ein ehrliches Buch geschrieben.
Der Zirkus. Ein Jahr im Innersten der Politik
Nils Minkmar S. Fischer 2013, 224 S., 19,99 €
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