Am frühen Montagabend trat also doch jene Gewissheit ein, die niemand erhofft, aber viele befürchtet hatten: Die drei israelischen Teenager, die vor knapp drei Wochen auf dem Nachhauseweg von der Jeschiwa, der Talmudschule, in der Nähe von Hebron im Westjordanland gekidnappt worden waren, sind tot. Schon kurz nach ihrem Verschwinden wurden sie von ihren Entführern, zwei Mitgliedern der radikal-islamischen Palästinenser-Organisation Hamas, im Fond des Wagens erschossen. Einer der Jungs hatte kurz vorher mit seinem Handy noch einen Hilferuf versucht und damit die beiden Männer offenbar aufgeschreckt. Sie schossen dann wohl aus Panik auf die Jugendlichen. Nun hat man sie, unter Steinen vergraben, gefunden.
Natürlich bedeutet das eine erneute Eskalation des seit vielen Jahren schwelenden Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern. Natürlich steht das Land unter Schock. Eine Entführung und Ermordung von Kindern gab es so noch nicht, obwohl es alle möglichen Terrorakte schon gegeben hat. Bereits am Montagabend fanden sich auf Plätzen wie dem Tel Aviver Rabin Square Menschen zusammen und stellten Kerzen auf. Natürlich wird die Stimmung auch in den nächsten Tagen aufgeheizt bleiben: Mehrere tausend israelische Sicherheitskräfte sind im Westjordanland im Einsatz; mehr als 400 Hamas-Mitglieder wurden festgenommen; mindestens fünf Palästinenser haben während der Suchaktion ihr Leben verloren; die Zahl der aus Gaza abgefeuerten Raketen hat seit dem Schlagabtausch vom November 2012 eine neue Rekordzahl erreicht, die israelische Armee hat noch in der Nacht zum Dienstag 34 Ziele in Gaza beschossen.
Dennoch: Als ich Chaja, eine Freundin, anrufe, die am Montagabend auf einer Hochzeitsfeier gewesen ist, erzählt sie mir, dass die Gäste die Todesnachricht zwar mit großer Bestürzung aufgenommen haben, – innerhalb von Sekunden hatte sich die Nachricht unter 500 Leuten verbreitet, viele riefen sofort ihre Freunde oder Kinder an, einige weinten –, aber dann feierten doch alle gemeinsam weiter. Eine Frau, die später über diese Hochzeit bei Times of Israel bloggte, schrieb: „Wir bluten gemeinsam und wir werden gemeinsam wieder gesund. Nach 18 Jahren in Israel habe ich gelernt, dass wir unsere Toten ehren, indem wir leben. Ich kenne niemanden, der heute auf Arbeit gehen wollte, aber ich weiß von allen, dass sie dennoch gegangen sind. So gehen wir mit der Tragödie um. Wir funktionieren.“ Chaja hat mir dasselbe schon öfter gesagt, nur mit anderen Worten: Die Israelis hätten sich vor langer Zeit schon entschlossen, nicht länger nur zu überleben, sondern zu leben. In manchen Momenten klang das stark und selbstbewusst, in anderen eher nicht so.
Natürlich fordern solche Sätze heraus, sie sind zu groß und zu mächtig und klingen zu pathetisch für den Alltag, den wir in Deutschland leben. Aus der Entfernung wollen solche Sätze leicht widerlegt sein. Aber lassen wir sie einmal stehen und fragen lieber, wie sieht so ein Alltag aus? Wie macht man das? Und, sicher am schwersten für einen Außenstehenden zu beantworten, wie mag sich das anfühlen? In der vergangenen Woche war ich selbst noch auf einem Fest in Israel, keine Hochzeit, sondern eine Geburtstagsfeier. Halb aus privaten Gründen, halb als Journalistin wollte ich mir anschauen, wie die Stimmung der Menschen dort gerade ist. Schließlich ist eine Entführung eine sehr emotionale Angelegenheit und die Suche nach den Jungs lief ja bereits auf Hochtouren, während die Medien hier nur am Rand darüber berichteten. Oder sagen wir, nicht mehr so viel wie früher.
Auf einer Geburtstagsfeier
Chaja, das Geburtstagskind, das kein Kind mehr ist, sondern eine Frau von 54 Jahren, hatte ihre Freunde in ein kleines Restaurant in Netanya geladen, das ein paar junge Leute erst vor kurzem eröffnet hatten. Man isst dort, was man in Israel überall isst: Humus und Auberginen und Salate und Soßen. Von außen sah es aus wie eine Imbissbude an einer Schnellstraße, im Inneren aber dachte man, in Tel Aviv zu sein. Tel Aviv ist jung und schön und seit längerem schon irre angesagt; Tel Aviv hat es, ähnlich wie Berlin, in Sachen Coolness an die Weltspitze geschafft und will mit dem Rest nicht mehr allzu viel zu tun haben. Hier in Netanya dagegen macht man sich darüber ein bißchen lustig.
Die Küstenstadt liegt im schmalsten Stück Israels. Die Grenze zum Westjordanland ist weniger als 15 Kilometer entfernt. Nicht nur deshalb wurde Netanya während der zweiten Intifada öfter zum Ziel von Anschlägen und Selbstmordattentaten an Bushaltestellen, in Einkaufszentren, Hotels und Schulen: In den Jahren 2001 bis 2005 starben hier allein 52 Menschen, mehr als 600 Menschen wurden verletzt. Lange ist die zweite Intifada noch nicht her, und streng genommen endete die Straße, in der wir saßen und feierten, direkt am Sperrzaun.
Die schönen Oberflächen also trügen, die Fassaden erzählen nur die halbe Geschichte und als Tourist, als ein mitteleuropäischer zumal, kann man sich durch das Land bewegen, fast als wäre nichts. Unsere Augen sind gewohnt, die Oberflächen zu lesen; wir glauben an das, was wir sehen. Aber was für die Israelis ein Modus des Lebens ist, wird für uns schnell zu einem des Vergessen. Einmal saß ich am See Genezareth, trank kalten Weißwein, schaute in die Nacht und fand all das, was ich sah, wunderschön. Es hätte der Gardasee oder der Lago Maggiore sein können, dachte ich und sagte das auch. Zum Glück nehmen viele Israelis solchen Blödsinn gelassen hin. Hinter diesen Bergen dort liege Syrien, erklärte man mir, hinter diesen Bergen dort sei Krieg. Was wie Frieden aussehe, sei keiner. Und ich, die ich es hätte wissen müssen, schämte mich und beschloss, meinen Augen fortan nicht mehr zu trauen.
Chaja hielt eine kleine Rede. Aus Rücksicht vor mir sprach sie Deutsch, und alle, bis auf ein Ehepaar aus der Nachbarschaft, verstanden sie. Danach sprach ein Freund auf Hebräisch, das wiederum alle mit ihren Familien und Freunden sprechen. Chaja dankte den Gästen, dass sie für sie da wären und mit ihr lebten. Und sie sagte noch, und dabei verlor ihre Stimme für ein paar Sekunden an Festigkeit, vor allem, weil ihre Freunde ihre Familie wären. „Ihr wisst schon, was ich meine“, schob sie, nun doch um Leichtigkeit bemüht, hinterher. Chaja war nach der Matura aus Österreich nach Israel gekommen; ihr Vater hatte Auschwitz und Mauthausen überlebt, ihre Mutter das Ghetto in Budapest. In Österreich konnte sich Chaja als junges Mädchen nicht vorstellen zu bleiben. Ihr Name ist ein hebräischer und bedeutet „die Lebendige“.
Die meisten Gäste hier haben eine ähnliche Geschichte. Ihre Biografien sind von unfassbaren Verlusten geprägt; nach dem Holocaust wuchsen ihre Familien aus ein paar Überlebenden heran. Kinder waren gleichbedeutend mit Leben. Dass es sich bei den Toten um Jugendliche handelt, trifft die israelische Gesellschaft daher an ihrem wundesten Punkt und die Juden in ihrem größten Schmerz.
Trotzdem gehen im Land die Meinungen über die Entführung und den Umgang der Regierung von Benjamin Netanyahu weit auseinander. Die Jugendlichen waren Kinder von Siedlern, dass man sie von der Jeschiwa nach Hause trampen ließ, ist zwar rund um Hebron üblich, aber viele fanden das dennoch unverantwortlich. Vor allem die israelischen Linken, politisch im Moment sehr in der Defensive, sind Gegner des sich brutal ausbreitenden Siedlungsbaus und klagen, dass diese religiösen Siedler, viele von ihnen stammen aus Amerika, das übrige Land in eine Art Geiselhaft nehmen. Dieser Eindruck hat sich nun noch einmal verstärkt.
Zumal Netanyahu die #Bringbackourboys-Kampagne von Anfang an politisch zu nutzen wusste. Einmal abgesehen davon, dass die Suchaktion tausender Sicherheitskräfte das gesamte Westjordanland unter Generalverdacht stellte, gab er bereits früh jener Hamas die Schuld an der Entführung, die erst seit ein paar Wochen mit der gemäßigteren Fatah von Mahmud Abbas eine Einheitsregierung bildet. Dieser Schulterschluss war kurz nach dem jüngsten Scheitern der von US-Außenminister John Kerry trotz aller Skepsis eifrig betriebenen Friedensgespräche zustande gekommen und sollte den Palestinensern vor allem im Ausland Sympathien einbringen. Nur von dort kann Unterstützung für die Gründung eines eigenen Staates kommen. Netanyahu war diese Einheitsregierung, – zu Recht, wie sich jetzt herausstellt –, von Anfang an ein Dorn im Auge. Die Hamas ist eine Terrororganisation, die der Gewalt und dem Kampf gegen Israel nie abgeschworen hat.
Wenn es aber trotz allem in den vergangenen Tagen so etwas wie eine positive Nachricht gab, dann die, dass die palästinensischen Sicherheitskräfte die israelischen bei der Suche nach den vermissten Jungs im Westjordanland unterstützten und dass Abbas die Entführung scharf verurteilt hat. In Wahrheit ist er nun der Mann, auf den es ankommt. Wird er wirklich weiterhin mit der Hamas zusammenarbeiten wollen?
Das versprochene Land
„Solange ich mich erinnern kann, erinnere ich mich an Angst. Existentielle Angst.“ So lauten die ersten Sätze von Ari Shavits großartigem Buch „My promised Land. The Triumph and Tragedy of Israel“. „Das Israel, in dem ich aufgewachsen bin – das Mitte der Sechziger Jahre – war energiegeladen, ausgelassen und hoffnungsvoll. Aber dennoch hatte ich immer das Gefühl, dass jenseits meiner Heimatstadt ein dunkler Ozean lag. Eines Tages, fürchtete ich, würde dieser Ozean ansteigen und uns überfluten. Eine Art mythologischer Tsunami würde unsere Küsten angreifen und mein Israel hinwegfegen, sodass daraus ein neues Atlantis werden würde, verloren in den Tiefen des Meeres.“
Shavits Buch, das 2013 in Amerika erschienen ist, erzählt die Geschichte Israels, oder anders gesagt: der linke Haaretz-Journalist und Publizist Shavit erzählt sich selbst die Geschichte seines Landes, weil er diese Geschichte und dieses Land mit all seinen Widersprüchen und Fehlern lieben will. Ich bin mir sicher, dass dieses Verfahren in Deutschland vielen missfällt; wir können die Geschichte unseres Landes nicht lieben, wir brauchen es nicht einmal zu versuchen. Aber diese fehlende Liebe macht uns arm, das wurde mir bewusst, als ich Shavit las. Sein linker Patriotismus erlaubt es ihm nämlich, sehr genau hinzusehen und sich all den verdrängten Fragen und Tabus, die die israelische Gesellschaft genauso kennt wie jede andere, zu widmen.
Aber warum erzähle ich Ihnen das? Weil viele von uns die Gründung Israels, seine Existenz für ein Friedensprojekt halten. Aber das ist es nicht; es wäre schön, wenn es das sein könnte. Israel ist von Anfang an ein Überlebensprojekt gewesen, und es ist es, wie man nun wieder sehen kann, bis zum heutigen Tag geblieben.
Lesen sie mehr über die Veränderungen im Nahen Osten auf der Seite 8
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