Es ist vorbei

Sexismus Brüderle, Steinbrück, Petraeus, Armstrong & Co: In vielen Debatten ging es um Männer, die plötzlich zu Verlierern geworden waren. Das ist kein Zufall

Der arme Rainer Brüderle! Nicht nur er wird sich in diesen Tagen verwundert die Augen reiben. Darf man denn einer Frau gar keine Komplimente mehr machen, fragen sich seit vergangener Woche gewiss auch viele andere Männer – und viele Frauen wahrscheinlich ebenso. Nachdem im Stern vom 24. Januar ein Porträt von Rainer Brüderle mit dem Titel „Ein Herrenwitz“ erschienen war, in dem die junge Journalistin Laura Himmelreich über äußerst unangenehme Aufdringlichkeiten des FDP-Mannes gegenüber Frauen schreibt. Der schaurigste und mittlerweile unzählige Male zitierte Satz in diesem Zusammenhang, den Brüderle nach einem Blick auf Himmelreichs Busen sagte: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“

So einen Satz als Kompliment zu bezeichnen geht natürlich gar nicht. So einen Satz aber wiederum schreiben zu können, wohlgemerkt im Stern und nicht in der Emma, das ist wirklich etwas Neues, wenngleich auch noch nichts Normales (siehe auch Interview).

Und so rollt seit vergangener Woche eine gigantische Sexismus-Debatte über uns hinweg, die dieses Land verändern wird. In den Zeitungen, im Fernsehen, in den Blogs, auf Facebook und Twitter, an den Küchentischen zuhause. Und ausgerechnet Hellmuth Karasek, der am vergangenen Sonntagabend bei Günther Jauch saß, um zu zeigen, wie wenig er von dem Thema versteht, ausgerechnet dieser Hellmuth Karasek hat einen der bisher klarsten Sätze dazu gesagt: „Es ist wie der Ausbruch eines Krieges.“

Denn in Wahrheit reiht sich diese Sexismus-Debatte in viele andere der vergangenen Tage, Wochen, Monate ein. Im Nachhinein wird niemand mehr sagen können, wann und wo es angefangen hat. Da war die Debatte um den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, der sich trotz all der missverständlichen Äußerungen und eindeutig zu hochdotierten Nebeneinkünften von seinen sozialdemokratischen Parteikollegen mehr Beinfreiheit wünscht. Ausgerechnet Beinfreiheit! Was ein Alpha-Mann sich halt so wünscht. Da wurde über die Quote in Medienhäusern und Vorstandsetagen und über das Betreuungsgeld gestritten. Da gab es, schon ein wenig länger her, die Affären um Dominique Strauss-Kahn und um Silvio Berlusconi, da stolperte jüngst mit General David Howell Petraeus, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Irak und in Afghanistan und ein in Republikaner-Kreisen hoch gehandelten Anwärter als Kandidat für die Präsidentschaft, also einer der mächtigsten Männer der USA über eine Affäre.

Es ist wie der Ausbruch eines …

Da wurden Pussy Riot in Russland zum Symbol des Widerstandes gegen Wladimir Putin. Da unterlag Mitt Romney Barack Obama, und das „Ende des weißen Mannes“ in Amerika wurde ausgerufen. Da wurde hierzulande Jörg Kachelmanns „Opfer-Abo“ als Schmähbegriff gegen Frauen zum Unwort des Jahres gewählt. Da gestand Lance Armstrong, seine Erfolge jahrelang auf ein gigantisches Betrugs-Netzwerk aufgebaut zu haben. Und da trat Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz als Nachfolgerin von Kurt Beck ihr Amt an. Mit einer so großen Aufmerksamkeit, dass Beck, der mit 18 Jahren so lange wie kein anderer als Ministerpräsident im Amt war, Angst haben muss, im Rückblick auf seine Amtszeit würde nur an das Debakel am Nürburgring und an die Personalie Dreyer erinnert werden.

Im Zentrum all dieser Debatten, Ereignisse und Nachrichten standen Männer. Auf die eine oder andere Art ging es stets um ihr Verhältnis zur Wirklichkeit. Und in all diesen Debatten waren weiße, heterosexuelle Männer in Machtpositionen plötzlich und aus vielen Gründen zu Verlierern geworden. Manchmal nur deshalb, weil sie die Dinge sahen, wie sie sie immer gesehen hatten. Weil sie die Dinge taten, wie sie sie immer getan hatten. Weil sie glaubten, sie seien noch immer unter sich. Unbeobachtet und durch keinen anderen Blick, keine andere Perspektive, keine andere Biographie, keine fremde Geschichte oder Herkunft, durch keine anderen Werte in ihrem Tun begrenzt. Der Zeitgeist aber schob sie gerade deshalb erbarmungslos an den Rand. Männer wie jetzt Rainer Brüderle und wie vor ihm Dominique Strauss-Kahn, Lance Armstrong oder Peer Steinbrück wurden aus unterschiedlichen Situationen heraus Getriebene.

… Krieges, sagte Hellmuth …

Oft wirkten diese Männer so, als verstünden sie selbst am wenigsten, worum es eigentlich ging. Was richtig und was falsch war, was man tat und was man ließ, was man sagte oder worüber man schwieg, diese Instinkte schienen sie verlassen zu haben. Und schlimmer war sicher noch jene Erfahrung, dass selbst ihre Macht und ihr Einfluss sie nicht mehr schützen konnten. Denn die Kritik reicht längst tief in die Mitte der Gesellschaft hinein, sie hat die sogenannte kritische Masse erreicht.

Und so waren diese Männer nicht länger nur persönlich gemeint, sondern die Kritik an ihnen war bereits zur universalen Kritik an einer Herrschaftsform, an einer scheinbar für ewig beanspruchten und durch niemanden in Zweifel zu ziehenden Vormachtstellung geworden. Es ging um das System, das sie repräsentierten. Anders ist, wie gesagt, nicht zu erklären, dass der Herrenwitz-Text ausgerechnet im Stern erschienen ist, einer Illustrierten, die gern wie so viele andere auch, nackte Frauen auf dem Titelbild zeigt. Aber die Männer sind keine homogene Masse mehr, sie beginnen an sich selbst zu zweifeln. Die jungen an den älteren; die aufgeklärten an denen, die in traditionellen Rollenmustern denken.

Diesen Zeitgeist zu erklären ist schwer. Ihn mit Zahlen, Daten und Fakten zu belegen noch mehr. Allenfalls Bruchstücke lassen sich zusammensetzen. Schauen wir nach Übersee: Bei der US-Präsidentenwahl haben 55 Prozent der Frauen, 96 Prozent der Afro-Amerikaner und 71 Prozent der Latinos für Barack Obama gestimmt. Die Summe der einzelnen Minderheiten-Teile war größer als die der bisherigen Mehrheitsgesellschaft. Die Minderheiten zusammen haben Obama eine zweite Amtszeit gesichert. Sie haben einen Sieg errungen, der sie verbindet.

Und es findet eine Veränderung statt, bei der Bildung die treibende Kraft ist. An allen Hoch- und Fachschulen weltweit, mit Ausnahme Afrikas, sind Frauen in der Überzahl. In den Vereinigten Staaten beispielsweise kommen auf zwei Männer, die einen Bachelor-Abschluss machen jeweils drei Frauen. In Indien lernen inzwischen mehr Frauen Englisch als Männer. In China sind bereits 40 Prozent der Privatunternehmen im Besitz von Frauen. Und in Südkorea, einem jahrhundertelang streng patriarchal organisierten Staat, in dem man weibliche Föten abtrieb und Frauen misshandelte, wenn sie keine männlichen Erben auf die Welt brachten, ist die Liebe für erstgeborene Söhne verschwunden. 2010 antworteten 29,2 Prozent der Frauen, sie hätten lieber einen Sohn, 36,3 Prozent hingegen wollten ein Mädchen. Erstaunlicherweis war die Kluft bei den Männern noch größer: Nur 23 Prozent wollten einen Jungen, 42,6 Prozent dagegen ein Mädchen.

Und was hat all das mit Rainer Brüderle zu tun? Wir schauen auf die anderen, die anderen schauen auf uns: Nun hat auch die New York Times über die aktuelle Debatte berichtet. Frauen hierzulande schreiben auf Twitter unter dem Hashtag #Aufschrei über ihre Erfahrungen mit Sexismus, die Französinnen haben sich ihnen unter #assez und die Italienerinnen unter #gridala angeschlossen.

Die hiesigen Zahlen bestätigen zudem den globalen Trend: Auch in Deutschland holen die Frauen immer mehr auf. Waren laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2000 nur 24 Prozent der hochqualifizierten Erwerbstätigen im Alter von 30 bis 34 Jahren Frauen, stieg ihre Zahl bis zum Jahr 2010 bereits auf 35 Prozent an; während die Zahl der Männer im gleichen Zeitraum nur von 29 auf 31 Prozent wuchs. Mit anderen Worten: Die jungen Frauen haben die Männer gleichen Alters inzwischen überholt. Im besten Fall lernen beide Geschlechter dabei voneinander, im Büro wie zuhause.

… Karasek bei Günther Jauch

Die Amerikanerin Hanna Rosin hat in ihrem Buch Das Ende der Männer für dieses Phänomen die Bezeichnungen „Plastikfrau“ und „Mann aus Pappe“ benutzt. Die „Plastikfrau“ ist eine, die einen nahezu napoleonischen Eroberungsdrang habe, mehr als weibliche Singles und genauso viel wie Männer verdiene. Sie hat Kinder, aber arbeitet, als hätte sie keine: „Sie ist die Mutantin, die von unserer Gesellschaft heute am meisten belohnt wird, ein Mensch, der die alten weiblichen und männlichen Pflichten gleichzeitig erfüllt, ohne dabei irgendwie kürzerzutreten.“

Beim „Mann aus Pappe“ hingegen änderte sich fast nichts. Viele klassische Männerberufe werden mittlerweile von Frauen ausgeübt; umgekehrt gilt das nicht. Dennoch beruht der „männliche Selbstwert“ noch immer auf dem Beruf, eine klar umrissene „neue männliche Identität“ ist noch nicht gefunden. Viele Männer stecken irgendwie fest. Sie machen ein bisschen mehr Hausarbeit als früher, kümmern sich ein wenig mehr um die Kinder, als noch ihre Väter es taten. Die Frauen jedoch leisten im Gegenzug viel mehr bezahlte Arbeit – und machen den Rest halt auch noch.

Mit all diesen Frauen wird die Welt weiblicher, was nicht automatisch bedeuten muss, dass sie besser wird. Erst einmal aber wird sie anders, und viele Männer scheinen Mühe zu haben, sich dieser Veränderung zu stellen. Die meisten, und auch Rainer Brüderle gehört wohl dazu, versuchen diesen Wandel bisher noch zu ignorieren. Und vielleicht ist es erst einmal nicht mehr als diese Ignoranz, die der Zeitgeist nun hemmungslos ahndet. Sie wird nicht mehr verschwiegen oder toleriert. Die Ignoranz der Männer ist selbst zu einem Thema geworden.

Womit wir wieder bei Laura Himmelreich und Rainer Brüderle wären, diesem so ungleichen Paar. In Gestalt der jungen Journalistin mit dem verträumten Namen und dem 67 Jahre alten Politiker, der seine Partei im Wahljahr aus der Krise führen soll, ist die neue Zeit nachts an der Bar auf die alte Ordnung getroffen. Und plötzlich brach ein Krieg aus, genau so wie Hellmuth Karasek es nicht treffender hätte formulieren können. Ein Krieg, der nur deshalb geführt werden kann, weil eine Frau wie Laura Himmelreich mittlerweile auch über Waffen verfügt und ihrem Gegner damit beinahe auf Augenhöhe Widerstand leisten kann – oder zumindest damit beginnt, diesen zu leisten.

Dadurch ist die junge Journalistin zu einer Art Symbol geworden, ähnlich übrigens wie auf einer ganz anderen Ebene die junge Frau in Indien, die den nächtlichen Zusammenstoß mit ihren brutalen Vergewaltigern mit dem Leben bezahlen musste, es in ihrem Land geworden ist. Dieser Vergleich mag drastisch klingen, aber er hinkt nur auf den ersten Blick. Jede Gesellschaft schafft ihre Koordinaten, ihre Bedingungen, und die indische ist in vielen Bereichen auf eine hier nicht vorzustellende Art gewaltsam und eben brutal. Aber auch da kämpfen Männer gegen Frauen – auf ihre Art. Hier wie dort geht es um Sexismus, um Diskriminierung von Frauen. Der große Unterschied ist allerdings, dass es hier nicht ums Überleben geht. Aber es geht um Gerechtigkeit und Respekt.

Zwischenfälle wie der zwischen Laura Himmelreich und Rainer Brüderle wird es auch in Zukunft geben. Das Phänomen, dass junge Frauen in Politikredaktionen großer Zeitungen arbeiten, ist ja erst ein paar Jahre alt. Solche Zwischenfälle werden wahrscheinlich sogar noch zunehmen, je mehr Frauen solche Jobs machen.

Nun also herrscht Krieg. Auch weil viele Männer nach wie vor nicht daran denken, freiwillig auf die Privilegien, die sie aufgrund ihres Geschlechts genießen zu verzichten. Und sei es auch nur auf das Privileg, einen schmierigen Spruch loszuwerden. Es ist gut, dass wir das mit dem Krieg jetzt einmal so drastisch gesagt und gehört haben. Und es ist gut, dass diese Sexismus-Debatte so aufgeregt und aufgewühlt geführt wird. Denn wer glaubt, dass der Kampf um mehr Gleichberechtigung eine für alle Seiten angenehme und kaum spürbare Angelegenheit ist, der merkt spätestens jetzt, dass er sich getäuscht hat. Auch Brüderle und Co. werden noch lernen: Der Vormarsch der Frauen ist eine Entwicklung, die sich einfach nicht ignorieren lässt.

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