Kaffee ist schwarz. Milch ist weiß. Die meisten Brautkleider sind erstaunlicherweise immer noch weiß, auf Beerdigungen hingegen ist alles schwarz. Die Taufkleider der Neugeborenen sind weiß; auf Vernissagen, im Theater, auf Modenschauen tragen die meisten schwarz. Diese Menschen sind anders und sie wollen, dass die anderen das auch sehen. Nur Benjamin von Stuckrad-Barre lief, aber das ist nun schon mehr als zehn Jahre her, gern mit einem weißen Anzug durch Berlin. Offenbar fühlte er sich noch einmal anders als die, die sich auch anders fühlten. Was man ja gut verstehen kann. Das iPhone kann man in Schwarz oder in weiß kaufen. Es gibt Schwarzbrot und Weißbrot.
Die Haare von Susan Sontag waren irgendwann an einer Stelle weiß, die übrigen blieben sehr schwarz, während Michael Jackson so insgesamt im Laufe der Zeit immer weißer wurde. In der Todesfuge von Paul Celan ist die Farbe Schwarz gleich das erste Wort. „Schwarze Milch der Frühe, wir trinken sie abends, wir trinken sie mittags und morgens.“ Der Mond ist weiß, die Nacht ist schwarz. Frieden ist weiß, Krieg eher schwarz. Die Sprache der Kinder fühlt sich bunt an. Und die Liebe, sie ist wahrscheinlich für die meisten rot. Aber was ist eigentlich grau?
Nachkriegsmenschen
Die Welt in meiner Kindheit soll grau gewesen sein. Die Bilder meines Schulanfangs jedenfalls sehen tatsächlich so aus, als wäre das kurz nach dem Krieg gewesen. Auch die Menschen darauf sehen grau aus. Nachkriegsmenschen. Zu früh gealterte Menschen, vor allem in der Generation der Eltern meiner Eltern. Auch die Fotografien von Helga Paris, Harald Hauswald und Gundula Schulze-Eldowy bezeugen das. Sie zeigen die DDR als eine Welt, die nach dem großen Zerfall immer weiter zerfallen ist. Selbst die am Prenzlauer Berg, auch wenn das dort heute viele nachträglich als ein Glück empfinden. Ich selbst erinnere mich nur daran, dass das beim Toilettenpapier tatsächlich so war. Das war wirklich grau.
Der Fußbodenbelag in den meisten Büros ist heute grau. Der in unserem auch. Pullover sind im Gegenteil zu Schuhen sehr, sehr oft grau. Socken auch. Schleifen im Haar und, überhaupt, Haarspangen eher selten. Weil Haare werden ja grau. Und es gibt auch Graubrot.
Kann es aber sein, dass es gar nicht so viele Dinge gibt, die grau sind? Also so archetypisch grau. Außer Wolken und Steine. Dass Grau mehr als alle anderen Farben ein Gefühl ist. Dass wenn, eigentlich nur die Seele, eigentlich nur Gedanken eine graue Farbe annehmen können? Die Melancholie, die Traurigkeit, die Fremdheit, das Hadern, das Kranksein und das Sichverlorengehen, die Heimatlosigkeit. Das Nichtvordietürgehen. Das Alleinsein.
Haben Sie sich schon einmal orange oder grün oder gelb gefühlt? Wahrscheinlich nicht. Grau hingegen kann man sich auch fühlen, wenn die Sonne scheint. „Еinsamer nie als im August“, hat Gottfried Benn geschrieben. Grau ist auch, wenn nicht November ist.
Eher ist es doch so: Der ganze andere langweilige Rest zwischen dem Anfang in einem weißen Taufkleid und dem Ende in der schwarzen Erde ist grau. Die Arbeit irgendwann, die Liebe schneller als man denkt, nur die Kinder nicht. Das ganze andere langweilige Leben, das dazwischen irgendwie gelebt werden muss. Für die Literatur ist das oft ein Glück, für die Lyrik sowieso. „Мein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau, Es scheinen die alten Weiden so grau“, versucht der Vater sein Kind im Erlkönig zu beruhigen. Das klingt gut. Allein, den Sohn kann es in seinem Fieberwahn nicht besänftigen. Grau tröstet nicht, grau ist.
Ich kenne eigentlich kein Gedicht, das dieses Gesetz ins Gegenteil zu verkehren versucht. In den allermeisten wird das Grausein in allen irgendwie denkbaren Farben beschrieben. Nur Thomas Brasch hat das in dem schönen, kleinen Gedicht Antworten Sie, Herr Brunke! schon ganz richtig gesagt: „Die Welt ist gar nicht weiß und das will ich auch nicht“, heißt es darin, „wissen ist nicht weiß aber ein schönes grau überzieht sie und grau ist auch eine Farbe ist das ohne rot ohne blau ohne grün ohne gelb das schon gar nicht aber gefragt woher ich komme aus welchem Land welcher Farbe antworte ich aus dem grauen Land der Farbe in meiner Hand.“
In einfachen Worten könnte man sagen: Wir lernen die Farben, die bunten, in jenem Moment zu begreifen, in dem wir das Grau verstanden haben. Das hat mit Wohlfühlwelt nichts zu tun. Auch nichts mit Esoterik.
Als ich jünger war, habe ich das Gedicht von Thomas Brasch nicht verstanden. Brasch, der 1945 in England geboren wurde, 1976 nach der Biermann-Affäre die DDR verließ und im Jahr 2001, mittlerweile wieder in Ostberlin wohnend, gestorben ist. Ich hielt es halt für so Poesie, für gut klingende Worte. Ich wusste nicht, dass Grau auch eine Farbe sein kann. Ich hielt das Unterwegssein, das Vordietürgehen und Mitleutenreden für die einzig mögliche Art zu existieren. Für das einzig Richtige im Leben. Ich kämpfte, wann immer ich konnte, gegen das Sichverlorengehen, das Hadern, gegen die Heimatlosigkeit an. Ich ging vor die Tür, weil ich all das für unnatürliche Gefühle, für Zustände des Übergangs hielt, halten wollte.
Novemberlicht
Seit ich ein Kind habe, tue ich das nicht mehr. Seither holen mich diese Gefühle nicht mehr ein, verschonen sie mich. Stattdessen begleiten sich mich nun jeden Tag, das ist leichter. Ich habe verstanden, dass ich es nicht schaffe, so bunt wie ein Kind zu sein. Seit das Kind in seiner Buntheit da ist, kann ich in aller Ruhe grau sein. Seit das Kind da ist, weiß ich, dass ich nur in meiner grauen Kindheitswelt bunt sein konnte. Seit ich erwachsen bin, weiß ich, dass ich der Grauheit meiner Kindheitswelt nicht mehr entkommen werde. Dass ich nicht mehr bunt werde.
Mit jedem Tag, den ich älter werde, wird mir klarer, dass Deutschland kein buntes Land ist. Nie gewesen ist. Umso mehr übertünchen wir, denke ich, die graue Farbe. Umso bunter malen wir das Land an. So sehr, dass das Kind alle grauen Häuser für alte Häuser hält. Eines Tages wird es begreifen, dass es sich irrt. So wie ich auch eines Tages begriff, dass ich mich geirrt hatte.
Am Abend des 10. November bin ich noch einmal vor die Tür gegangen. Ich wollte Brot kaufen, um dem Kind am nächsten Tag Schulbrote machen zu können. Im Prenzlauer Berg bekommt man auch an einem Sonntagabend Brot. Ich lief durch die Straßen, sah das dunkle, nasse und kalte Novemberlicht nur im Schein der Laternen. Vor einem Haus stand neben einem dieser Stolpersteine eine Kerze. Sie musste dort noch vom Vorabend übrig geblieben sein. Jemand hatte sie nun erneut entzündet, um an Edith und Leo Mendelsohn zu erinnern. Sie hatten einst in diesem Haus gewohnt, wurden im Jahr 1943 deportiert und in Auschwitz, ja, wirklich in Auschwitz, ermordet. Diese Kerze war nicht grau.
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