Politik für alle

Stefan Raab Mit seiner Sendung „Absolute Mehrheit“ rettet der Pro7-Quotenkönig die politische Talkshow. Er spricht einfach, klar und unverstellt

Der peinlichste Moment kam fast zum Schluss: Soeben hatte Wolfgang „Ich rette die FDP“ Kubicki der recht gut aussehenden Dame zu seiner linken ein Küsschen gegeben. Nun wollte die sich dafür bedanken und küsste zurück. Nein, genauer, sie wollte zurück küssen. Kubicki aber war da schon woanders, und die geschürzten Lippen zielten ins Leere. Ein, wie gesagt, peinlicher, aber auch ehrlicher Moment, den es so bei Günther Jauch oder Anne Will nie geben könnte. Denn solche Entgleisungen sind in der dort inszenierten Asepsis einfach undenkbar.

Stefan Raab, der Pro7-Quotenkönig, ist am vergangenen Sonntagabend mit seiner Polit-Talkshow Absolute Mehrheit gestartet. Sie sollte flapsig, spontan, leicht und sehr unspießig sein. Eher lustig und trotzdem ernst. Für den Kölner Metzgers-Sohn und Erfinder der Wok-WM ein heikles Unterfangen. Denn so ziemlich alle waren sich sicher, dass das Vorhaben scheitert. Und Raab selbst endlich einmal mit. Aber am Ende steht nun jener Satz, der fast wie eine Pointe von Harald Schmidt klingt: Es ist geglückt. Es hat funktioniert.

Mehr noch: Mit dieser neuen politischen Talkshow kündigt sich – endlich – ein Epochenwechsel an. Wenn ein Entertainer wie Raab im Fernsehen über Politik reden kann, dann können praktisch alle überall über Politik reden – auch junge Menschen, auch jene, die am liebsten Privatfernsehen gucken.

Politik goes street

Denn Stefan Raab spricht zu ihnen über Themen wie Vermögenssteuer, Kitaausbau, Energiewende und Bürgerrechte im Internet auf genau dieselbe Art und Weise, wie er normalerweise über Lena Meyer-Landrut redet. Er hält Politik nicht länger für eine Sache von kundigen, meist älteren, meist männlichen Journalisten und Bundestagsabgeordneten. Im Gegenteil: Er reißt das Ruder herum. Politik goes street. Politik goes people. Politik goes reality. Eine wunderbare Angelegenheit. Eine wirklich große Sache.

Dass dieses Experiment ausgerechnet im Fernsehen unternommen wurde und ausgerechnet da, im Nullmedium, geglückt ist: Es muss uns Zeitungsmacher tief kränken. Nahmen sich die seit gut einem Jahr im öffentlich-rechtlichen Fernsehen an jedem Wochentag platzierten Talkshows in ihrer Biederkeit – und selbst der einst gefeierte Frank Plassberg muss sich nun in die Jahre gekommen fühlen – letztlich doch nicht anders als der Politikteil einer üblichen Tageszeitung aus: hermetisch, aseptisch, künstlich, lebensfern.

Unsere Klagen über Jauch, Will, Plasberg, Maischberger und Co. waren also nicht mehr als Klagen über uns selbst. Denn nicht nur im Fernsehen und in den Zeitungen, sondern auch im Bundestag und in den Parteien hat sich das Reden und Schreiben über Politik vielerorts zu einer Tätigkeit entwickelt, die man nur beherrscht, wenn man eine Geheimsprache versteht. Besser noch: Wenn man sie selber spricht.

Da geht es dann um Verhandlungspoker, Junktims, Oppositionsbänke und Hinterbänkler, um Kampf- und Kooperationsbereitschaft. Da werden Gipfel überschattet, neue Töne angeschlagen, Missstände angeprangert, Unterstützung zugesichert, Glaubwürdigkeitsdefizite beklagt, Reformvorhaben angekündigt, Entscheidungen öffentlich kritisiert. Und so weiter. Da wird in einer Sprache geredet, die an Briefe vom Finanzamt erinnern.

Paralleluniversum Politik

Nicht zuletzt durch diese floskelhafte Sprache, die kein Mensch im Alltag benutzen würde, ist die Politik zu einem Paralleluniversum geworden. Die meisten Journalisten haben diese Floskeln ungefragt von Politikern übernommen. Sie reden längst wie die. Und die Finanz- und Eurokrise hat dieses Gebaren bis auf die Knochen entblößt. Die meisten Deutschen haben die Eurokrise schlicht nicht verstanden. Und fühlen sich unsicher in der heutigen Welt.

Dagegen gilt es zu kämpfen. Und direkt, unverstellt und klar ganz im Sinne des Lesers, Zuschauers oder, noch wichtiger, Wählers zu reden, zu argumentieren, zu schreiben. So wie Stefan Raab es versucht hat, könnten es die Zeitungen doch auch einmal versuchen. Es ist besser, sie nehmen sich das vor und scheitern, als wenn sie diese Herausforderung ignorieren. Denn jenen, die nicht verstanden werden, droht die Entfremdung, die Abspaltung. Denen droht letztlich: Einsamkeit.

Oder sollen wir es lieber Politikverdrossenheit nennen?

Während der Sendung wurde das Publikum aufgefordert, über jeden der Talkgäste abzustimmen. Dafür gab es ein Auto zu gewinnen. Wer von den Gästen die wenigsten Stimmen erhielt, durfte zwar sitzenbleiben, fiel aber aus dem Voting raus.

Wahrscheinlich ist für viele so ein Verfahren ein großes Übel. Aber die Wahl war nicht frei von Überraschungen: So belegte Jan van Aken von der Linkspartei am Ende den zweiten Platz – vor der SPD und der CDU. Wer hätte vorher schon mit so einem Ergebnis gerechnet? Der Sieger allerdings hieß Wolfgang Kubicki, leider. Stefan Raab wird also in den nächsten Sendungen beweisen müssen, dass da, wo Klartext gesprochen wird, nicht immer automatisch der größte Populist im Saal gewinnt, sondern der mit den besten Argumenten. Aber er hat sich ja mit seiner neuen Sendung auch viel vorgenommen.

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