Sex und Schuld

Tabuzone Die gesellschaftliche Vorstellung von Sex ist eine männliche. Immer noch. Auch weil wir über das, was im Schlafzimmer passiert, am liebsten schweigen

Wir sprechen über nichts auf der Welt so wenig wie über Sex. Haben Sie Ihre beste Freundin in letzter Zeit mal gefragt, wie oft sie eigentlich mit ihrem Mann schläft? Wissen Sie, ob Ihr bester Freund Analverkehr praktiziert? Haben Sie schon einmal jemandem erzählt, woran Sie denken, wenn Sie sich selbst befriedigen? Oder denken Sie dabei an nichts? Wohl kaum.

Nichts ist in unserer Gesellschaft so allgegenwärtig wie Sex. An der Oberfläche sowieso: Man muss dafür nicht erst die Bild-Zeitung aufschlagen, es reicht schon, an der Straßenbahnhaltestelle zu stehen und sich die neuesten Bikini-Modelle von H auf den Werbetafeln anzuschauen. Oder einmal vor dem Fernseher einzuschlafen und zu einer Zeit wieder aufzuwachen, zu der früher das Testbild auf dem Schirm flimmerte.

Aber nicht nur an der Oberfläche: Als der Filmproduzent Bernd Eichinger starb, konnte man sich überall im Netz durch endlos lange Fotostrecken seiner Ex-Geliebten – seiner Trophäen? – klicken. War er vor allem deshalb ein wichtiger Mann, weil er so viele Frauen erlegt hatte? Als kürzlich Gunter Sachs starb, knieten noch einmal alle vor dem Playboy nieder, der er vor vielen Jahrzehnten gewesen war. Durch seine kurze Ehe – seinen Sex? – mit Brigitte Bardot hatte er sogar „auf ganz eigene Rechnung die berüchtigte Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland beendet“, wie Willy Winkler in seinem Nachruf schrieb.

Es fällt einem so leicht keine Frau ein, die sich solch einer historischen Großtat rühmen könnte. Denn natürlich, unsere Vorstellung von Sexualität, – jene, die auf der Oberfläche oder darunter das öffentliche Bild dominiert und damit wahrscheinlich auch unsere privaten Sehnsüchte prägt –, sie ist eine männliche. Aber dazu später.

Zum freien Spiel der Körper passen öffentliche Codes nicht

Nun ist die Sexualität in den vergangenen Wochen ziemlich in Verruf geraten. Man muss sich langsam Sorgen um ihr Image machen. Da ist der Prozess wegen des Vorwurfes der Vergewaltigung gegen den Wetter-Moderator Jörg Kachelmann; da ist die Hotelzimmer-Affäre des nun bereits zurückgetretenen IWF-Vorsitzenden Dominique Strauss-Kahn; da sind die Lustreisen von Mitarbeitern der Versicherung Hamburg-Mannheimer, die jetzt Ergo heißt. All diese, ja, wie soll man sie eigentlich nennen, all diese Exzesse und unappetitlichen Grenzüberschreitungen, sie reihen sich in eine lange Reihe anderer, älterer Vorfälle: den Vergewaltigungsvorwurf gegen den Filmregisseur Roman Polanski; die Sex-Partys mit Minderjährigen des italienischen Präsidenten Silvio Berlusconi oder die Lustreisen von VW-Vorständen, die vor ein paar Jahren in der Hartz-Affäre gipfelten.

Was, um Gottes willen, hat das alles zu bedeuten? Was ist nur los? Mit uns, den Männern, den Frauen, dem Sex? Ist Sex überhaupt gesellschaftsfähig? War er es je?

Hinterher, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, wie es heißt, sind sich alle einig. Hinterher wollen es alle schon immer gewusst haben. Dass Macht beinahe automatisch zu Missbrauch führt, kann man nun lesen; dass härtere Strafen und Sanktionen sexuelle Gewaltdelikte mindern könnten, meinen andere; dass ein höherer Anteil an Frauen in Chefetagen Sexualität am Arbeitsplatz und Lustreisen als Vergütung von Mitarbeitern verhindern würde, glauben vor allem Publizistinnen. Und sie alle haben damit ein wenig recht. Aber löst das tatsächlich das Problem?

Seit ein paar Jahren versuchen wir, gerade in Deutschland, die Welt wieder stärker feministisch zu buchstabieren. Und das ist auch gut so. Über Sex jedoch, das mag eine einfache, aber folgenschwere Erkenntnis sein, über Sex jedoch kann man nicht in der Sprache aggressiver Radikalfeministinnen reden. Zum freien Spiel der Körper passen Tabus nicht. Hier haben öffentlich etablierte Codes nichts zu suchen. Und so obliegt es in der Regel den beiden Menschen, die sich begegnen, über die Grenzen der jeweiligen Lust zu verhandeln. Dieses an sich einfache Gesetz ist in all den jetzt diskutierten Fällen außer Kraft gesetzt worden. Darin gleichen sie sich trotz ihrer Unterschiedlichkeit. Deshalb landen sie nun zu Recht vor Gericht.

Aber sprechen wir mit den Menschen, die wir lieben, tatsächlich offen über das, was unsere Lust befriedigt? Der Dresdner Psychologe und Männerforscher Holger Brandes jedenfalls hat das Gegenteil beobachtet. Jahrelang hat er Männergruppen geleitet und dabei festgestellt, dass sich viele in Partnerschaften ein leidenschaftliches Verhältnis untersagen. In seinem Buch Der männliche Habitus schreibt Brandes: „Die fast schon als geflügeltes Wort anzusehende Spaltung zwischen ‚Hure und Madonna‘ findet sich hier einverleibt über Jahrhunderte wieder, wobei sie sowohl auf Seiten der Männer wie der Frauen dazu beiträgt, dass das Sexualleben in der dauerhaften Beziehung oder Ehe mit der Zeit häufig eintönig und wenig genussvoll wird und jede Form ungehemmter Lust bei den Beteiligten Schuldgefühle provoziert.“

Mit anderen Worten: Unsere privaten Schlafzimmer sind offensichtlich zu einer Zone voller Tabus geworden.

Ich weiß, das darf man nicht sagen, aber ich sage es trotzdem: Sind wir nicht alle ein bisschen Hamburg-Mannheimer? Würden nicht viele von uns die Gelegenheit, wenn sie sich bieten würde, nutzen, um einmal auf viel hemmungslosere Art Sex zu haben als in den eigenen vier Wänden? Egal, ob die Arbeitskollegen zuschauen oder nicht. Anders jedenfalls ist nicht zu erklären, warum kein einziger der 100 Mitarbeiter der Versicherungsgruppe gegen die gut organisierte Lustreise aufbegehrt hat. Sie haben alle mitgemacht. Eigentlich Wahnsinn.

Die private Seite des Mannes ist nach wie vor ein Rätsel

Natürlich hat es mit patriarchalen Machtstrukturen zu tun, dass sich solche Gelegenheiten fast ausschließlich Männern bieten. In solchen Momenten zeigt sich einmal mehr, wie lebendig diese Strukturen sind, trotz des feministischen Sounds, den die Medien hernach anstimmen. Ausschweifende Sexualität war schon immer nicht nur Folge von Macht, sondern die Macht selbst, eben in ihrer körperlichsten Form. Daran scheint sich erschreckenderweise nichts geändert zu haben.

Fast lächerlich wirkt es daher, dass der Fall Strauss-Kahn nun gern in eine Reihe mit den Entgleisungen anderer französischer Politiker wie François Mitterand oder Jacques Chirac gestellt wird. Was soll diese Genealogie uns sagen? Und warum schweigt man sich über das Liebesleben deutscher Repräsentanten beharrlich weiter aus?

Es ist leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. In alle Richtungen. Denn wer will eigentlich mit Sicherheit sagen, dass Frauen sich, wenn sie könnten, anders entscheiden würden. Die feministische Psychologin Christiane Schmerl glaubt, dass Frauen „buchstäblich jede Grausamkeit, jede Brutalität, jede sadistische oder kaltblütige Aggression” besitzen wie Männer auch: „Wenn Frauen weniger und anders aggressiv sind als Männer, dann deswegen, weil ihnen Gelegenheiten, Mittel und Erfolgsaussichten für die vorherrschenden männlichen Aggressionsformen fehlen“, schreibt sie in ihrer Studie Wann werden Weiber zu Hyänen?

Männliche und weibliche Sexualität – beide sind eben doch nichts anderes als weitgehend kulturell tradierte Rollen. Das mag in den Ohren jener traurig klingen, die so selbstverliebt an den Individualismus glauben. Und solange es in Filmen, Videospielen und in der Werbung von kraftstrotzenden Typen nur so wimmelt, so lange werden diese Rollen im Unterbewusstsein der Männer ihren Dienst tun. Denn auch das ist wahr: In der Männergesellschaft bleibt der Mann selbst das Rätsel; obwohl männliche Prinzipien die öffentliche Ordnung beinahe überall dominieren, hat die private Seite der Männlichkeit keinen Ort.

Wenn es so etwas wie eine Moral von der Geschichte gibt, dann wohl die, dass diese Skandale und Affären mit uns allen mehr zu tun haben, als wir glauben wollen. Wir sollten wieder anfangen, über Sex zu sprechen. Anders werden wir mit all dem Bildermüll um uns herum kaum fertig. Denn reden, das tun wir, wie gesagt, viel zu wenig.

Jana Hensel ist Autorin und freie Journalistin. 2010 gewann sie mit einem Text über neue Väter den Theodor-Wolff-Preis.

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