Die Freiheit in der Nische

Literatur im Netz Wer Fan-Fiction für infantile Hobby-Schriftstellerei hält, übersieht die subversiven Möglichkeiten, die sie bietet

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Die BBC-Serie Sherlock: Auch irgendwie Fan-Fiction
Die BBC-Serie Sherlock: Auch irgendwie Fan-Fiction

Bild: BBC Pressematerial

Über die Zukunft der Literatur nachdenken bedeutet, über das Schreiben im Internet nachzudenken. So geschieht es zweimal jährlich zur Buchmessezeit, wenn bilanziert und das Programm der nächsten Monate präsentiert wird, und auch zwischendurch in regelmäßigen Abständen. Sei es, weil Verlage sinkende Verkaufzahlen beklagen, Autorinnen und Autoren über neue Publikationswege berichten oder der Aufstieg des E-Books herbeigeredet wird. Wenn man sich vom Buchmarkt fortbewegt und stattdessen schaut, was in Fan-Fiction-Communities geschieht, könnte man meinen: die Zukunft ist schon da, sie findet jetzt gerade statt, und zwar an den Rändern des kommerziellen Handels mit dem geschriebenen Wort.

So, wie wir Fan Fiction heute erleben, ist es ein Phänomen des Web 2.0 – Plattformen wie das Archive of Our Own oder fanfiction.com ermöglichen eine schnelle, unkomplizierte Veröffentlichung – und erreichen noch dazu ein riesiges Publikum. Die Idee dahinter ist jedoch alt. Geschichten wurden immer schon fortgeschrieben, adaptiert, parodiert und neu interpretiert. Bei antiken Mythen oder neuzeitlichen Märchen stellt man sich die Frage nach Autorschaft oft gar nicht erst. Doktor Faustus ist ebenso wenig Goethes Erfindung wie Heinrich von Kleist die Figur der Penthesilea erdacht hat, und wenn die BBC Sherlock Holmes und Doctor Watson in der grandiosen Serie “Sherlock” in die Gegenwart holt, bedient sie sich bekannter Figuren, bekannter Schauplätze und bewährter Plots. Wer die Serie kennt, weiß, wie gerechtfertigt ihr großer Erfolg ist. Fan Fiction bedeutet nichts anderes, als dass die Fans eines schon bestehenden Narrativs selbst die Geschichte fortsetzen – und dabei häufig vom Original abweichen. Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten machen einen großen Teil des Fan-Fic-Kosmos aus, aber letztlich gibt es keine Grenzen: Im Archive of Our Own gibt es Erzählungen nach Vorlagen von Astrid Lindgren bis zum Marquis de Sade.

Literatur war immer dort besonders stark, wo sie frei und unabhängig war. Das bedeutet keineswegs, dass man nicht Geduld aufbringen muss, ehe man in den Archiven der Fan-Fiction-Sites auf Stories stößt, die rundum begeistern. Aber immerhin: Es gibt sie, es gibt sogar viele davon. Hier sind keine professionellen Autorinnen und Autoren am Werk. Was auf Bestsellerlisten oder als Stapelware in den Buchhandlungen landet, ist aber oft weder origineller noch besser erzählt – und die Selektion liegt hier wie dort in der Verantwortung der Lesenden. Noch dazu ist das Publikum auf den Fan-Fic-Plattformen nicht gerade das einfachste: Hier finden sich Expertinnen und Experten zusammen, lesen kritisch, redigieren einander. Während Verlage sich oft ausgerechnet beim Lektorat zu Tode sparen, wird in der nichtkommerziellen Bewegung auch hier eine Alternative geschaffen, die weniger professionell sein mag, aber dafür die Fähigkeiten und den Enthusiasmus der Community auf beste Weise nutzt.

Kommerzielle Literatur und Fan Fiction schließen einander jedoch nicht aus; das ist spätestens seit dem Erfolg von “Shades of Grey” erwiesen. Über kaum einen Roman wurde in den letzten Monaten so viel und so kritisch berichtet. Der im Universum der “Twilight”-Vampirromantik angelegte Romanzyklus ist keine große Literatur, nur weil er große Summen einspielt – natürlich nicht. Er mag sprachlich reizlos und inhaltlich zweifelhaft sein. Wahrscheinlich ist er vor allem fad.

Wer Fan Fiction jedoch für infantile Hobby-Schriftstellerei hält, übersieht die subversiven Möglichkeiten, die Communities wie fanfiction.com oder das Archive of Our Own bieten. Hier kommen Ideen zum Tragen, die im Fahrwasser kommerzieller Literatur untergehen, denn wo die Grenzen der kapitalistisch verwertbaren Literatur nicht greifen, werden Werte und Normen neu verhandelt. Das Kapital, um das es hier geht, ist nicht endlich und nicht in Zahlen messbar. Es geht um Anerkennung, um den Austausch mit Menschen, die irgendwo auf der Welt für die gleiche Sache brennen. Es geht um heiteren Eskapismus, Fluchten in das Universum Fankultur. Dort geht es zuweilen anarchisch zu. In den Erzählungen der Fans werden Neben- zu Hauptfiguren, wer gut war, agiert böse, und umgekehrt. Das kann durchaus gesellschaftspolitische Dimensionen annehmen: Die als hilflose “Damsel in Distress” angelegte weibliche Figur wird zur Heldin; oft werden die Regeln des heterosexuellen Mainstreams außer Kraft gesetzt, wenn etwa Sherlock Holmes ein erotisches Stelldichein mit Dr. Watson feiert. Und genau darin liegt die große Stärke dieser Bewegung. Wir müssen wir über die Freiheiten des Internets kritischer nachdenken. In der Fan-Fiction-Gemeinde gibt es einen enormen freiheitlichen Geist, einen kreativen Möglichkeitsraum. Und bisweilen auch: interessante, lesenswerte, großartig geschriebene Erzählungen.

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