Es gibt Kriminalfälle, die einen ganzen Ort verändern. Im oberbayerischen Dorfen hat vor dreißig Jahren Slobodan Stefanovic auf der Wache drei Polizisten erschossen, die zuvor seine Gewehre konfisziert hatten. Der Schütze kam aus dem ehemaligen Jugoslawien. Nach der Tat kochte im Ort der Fremdenhass hoch – bis zur Eskalation: Ein Mann aus dem Nachbarort Isen überfiel eine Sparkasse und nahm Geiseln, die er gegen drei türkische Staatsangehörige austauschen wollte. Um Rache zu nehmen für die toten Polizisten. Diesen Fall hat Leonhard F. Seidl zur Grundlage seines neuen Kriminalromans Fronten gemacht. Seidl ist selbst in Oberbayern aufgewachsen, eine kurze Radtour von Dorfen entfernt. Heute lebt er in Mittelfranken.
„Nürnberg ist schön“, sagt er unvermittelt beim Spaziergang durch die Stadt, und natürlich sieht man sofort, was er meint. Aber es sich einfach nur bequem zu machen in dieser malerischen Umgebung, ist nicht sein Ding. Als Anfang des Jahres der Afghane Asef N. aus seiner Berufsschulklasse geholt und abgeschoben werden soll, ist er an einer Sitzblockade beteiligt. Dass die Polizei dabei nicht so friedlich vorgegangen ist, wie sie behauptet, zeigt Seidls Attest. Ein Arzt bestätigt mehrere Verletzungen.
Ziviler Ungehorsam gehört zu Seidls Demokratieverständnis. Und so ist auch seine literarische Stimme eine, die sich dezidiert politisch äußert: „Ich wollte in Fronten den Rassismus aufzeigen, der sich nach einem derartig schrecklichen Ereignis Bahn brechen kann. Er war immer gesellschaftsimmanent, aber mit dem Rechtsruck, vor allem durch den Wahlerfolg der AfD, und einigen den verlorenen Stimmen hinterherhechelnden Politikern hat er sich tragischerweise noch mehr institutionalisiert, als es im Zuge der NSU-Morde schon zu beobachten war.“
Reichsbürger auf Chemtrail
Warum er einen Roman geschrieben hat und kein Sachbuch, angesichts der profunden Recherche für Fronten? Der Roman gebe Freiheiten, die nur ein fiktionaler Text ermöglichen kann – Seidl hat die Handlung etwa in die Gegenwart versetzt und ins benachbarte Auffing. Außerdem könne der Roman vielleicht auch eine innere Logik der Ereignisse aufzeigen, wo der wirkliche Fall irrational erscheint: „Warum geht ein Nazi in eine Sparkasse, um türkische Geiseln zu nehmen, und nicht gleich in die Moschee, die es da vor Ort gibt?“
In Fronten sinnt nach dem Mord an drei Polizisten durch den Bosnier Ayyub Zlatar ein „Reichsbürger“ auf Rache und überfällt schließlich eine Moschee. Markus Keilhofer ist bei seinen Großeltern aufgewachsen, die schon Mitte der 1990er Jahre die Gefahr von Chemtrails erkannt haben und auch andere abstruse Verschwörungstheorien eifrig abnicken. Als sie bei einem Ausflug mit Markus im Ferienpark ihre Personalausweise vorzeigen sollen, sagen sie: „Wir gehören nicht zum Personal der besetzten Bundesrepublik Deutschland.“
Engagierte Literatur
Leonhard F. Seidl wurde 1976 in München geboren. Seidl arbeitet als Sozialpädagoge, Dozent für kreatives Schreiben, Biograf und als freier Autor. Seit 2012 ist Seidl Juror des Literaturwettbewerbs der Jungen Stimme e.V. zum Thema Alltagsrassismus. 2016 war Leonhard F. Seidl Writer in Residence an der Franz-Edelmaier- Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran. 2015 erschienen mehrere Kriminalbücher. Im August erschien sein Roman Fronten (Nautilus, 160 S., 16 €), der durch einen wahren Fall im oberbayerischen Dorfen inspiriert ist
Foto: Katrin Heim
Sprache ist für den Autor ein Mittel, die Wirklichkeit zu gestalten. Dass Begriffe keine Lappalien sind, zeigt sich momentan wieder ganz akut – ausgerechnet in München ringt die Regierung damit, den Amoklauf von David S., der in einem Einkaufszentrum neun Menschen aus Einwandererfamilien erschossen hat, als rechten Terrorakt zu bezeichnen. Genau fünf Jahre zuvor hatte Anders Breivik bei einem Zeltlager der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet 77 Menschen erschossen. Breivik soll David S. als Vorbild gedient haben; genau wie Seidls Romanfigur vorwegnimmt. Bei Lesungen an Schulen fragt der Autor oft: „Was genau war das im Olympia-Einkaufszentrum in München, war das ein Terroranschlag?“ „Viele können das nicht trennen, denken, das konnte kein Nazi gewesen sein, weil die Eltern von David S. aus dem Iran kommen.“
Ähnlich wie in Seidls Debütroman Mutterkorn (Kulturmaschinen, 2011) geht es um die Gefahr, die von Neonazis ausgeht. In Mutterkorn wird unter anderem der versuchte Anschlag auf die Grundsteinlegung eines jüdischen Kulturzentrums in München 2003 thematisiert – als der Roman erschien, wurden gerade die NSU-Morde bekannt. Seidl ist kein Prophet, er schaut einfach sehr genau hin – kein Wunder also, dass ihn die Realität bisweilen einholt. „Erst mal ist das gruslig. Auf der anderen Seite bestätigt es mich auch. Es gab Leute, die gesagt haben, ich würde übertreiben, das Ganze überzeichnen.“ Schön wäre es.
In Fronten kennen beide Täter das Gefühl, verfolgt zu werden – Ayyub Zlatar denkt bei jedem Klingeln an der Tür, er würde abgeholt. Markus Keilhofers Großmutter gibt ihrem „Guggile“ Ziegenmilch mit Kampfer und Mohnblütenöl, „gegen das Gift von den Amis und dem Jud“. Obwohl die beiden Romanfiguren parallele Entwicklungen zeigen und ihre Stimmen hier nebeneinander erzählen, werden sie nicht gleichgesetzt. Komplexe Figuren zugunsten einer griffigen Story zu reduzieren, so einfach macht es Seidl weder sich noch seinen Lesern. Die Figur Ayyub würde von einigen als religiöser Extremist gelesen – dabei sei er ja gerade das nicht. Ayyub war als Kind aus Srebrenica geflohen. Für die knappen Seiten, die dort spielen und aus Sicht des Jungen vom Jugoslawienkrieg erzählen, hat Seidl monatelang recherchiert. Die profunde Recherche ist es überhaupt, was nicht nur Fronten, sondern auch seine anderen Romane auszeichnet. Dabei ist Seidl durchaus ein Vielschreiber, der binnen weniger Jahre mehrere Romane, Kurzgeschichtenbände und einen „kriminellen Freizeitführer“ für Oberbayern geschrieben hat, hinzu kommen Reportagen, Zeitungsartikel, Herausgeberschaften.
Mehr als einmal problematisiert Seidl im Gespräch die Tendenz zur Vereinzelung, dazu, dass alle nur mehr ihr eigenes Ding machen. Dem setzt er bewusst auch seine Art zu schreiben entgegen – eine offene, den Austausch suchende Methodik. Da sind die literarischen Einflüsse, Werner Kofler habe ihn beeinflusst, „weil er die bigotte Moral der kleinbürgerlichen Gesellschaft bravourös und mit Humor aufzeigt. Ernst Jünger war der Autor schlechthin, um ihn aus Markus’ Freund Ernst sprechen zu lassen. Übrigens auch, was dessen Drogenerfahrungen angeht“. Zu nennen sind vor allem die – gewissermaßen – außerliterarischen Einflüsse: Das beginnt dabei, dass sein Vater, selbst Autor, ihm bei den Passagen im Dialekt von Markus’ Großeltern geholfen hat. Und vor Ort in Dorfen hat Seidl zusammen mit einer Schulklasse des örtlichen Gymnasiums recherchiert und den Fall aus allen Blickwinkeln beleuchtet. Mit dem Sohn eines der erschossenen Polizisten haben sie gesprochen, einem Neonazi-Aussteiger, mit einem ortsansässigen Psychiater, mit dem Sanitäter, der als Erstes vor Ort war, als Stefanovic die drei Polizisten erschossen hat.
Natürlich erfordert die Arbeit als Autor eine Form von Konzentration, die einen auf sich selbst zurückwirft. Aber Seidls Methode ist ein konsequent dialogisches, durch den Austausch angeregtes Schreiben. Eines, das aus mehreren Blickwinkeln in eine Erzählung hineinleuchtet, statt Schlagschatten zu werfen. „Es ist für mich eine gute Ressource, ein Stück außerhalb der Gesellschaft zu stehen, das ermöglicht mir einen unverstellteren Blick auf die Zusammenhänge. Dieser Blick von außen ist für mich essenziell. Ich fühle mich den Underdogs näher. Denen, die benachteiligt und ausgegrenzt werden. Andererseits sehe ich das Privileg, als weißer Mittelschichtsdeutscher, der hier geboren wurde, zu schreiben. Für mich ist das ein Grund, mich zu engagieren und anderen eine Stimme zu geben.“ Zum Beispiel der kurdischen Ärztin Roja, die wie zufällig ins Fahrwasser der Gewalt gerät, weil auch sie bei Ayyubs Amoklauf auf der Polizeiwache ist. Roja sollte zunächst den Namen Fatima bekommen. Eine Schülerin fand das viel zu offensichtlich, also heißt die Romanfigur heute eben nicht so. Nicht das einzige Beispiel dafür, dass die Arbeit mit der Gymnasialklasse den Roman beeinflusst hat. „Wir haben auch zusammen herausgearbeitet, dass es Ayyub letztlich um die Sicherheit ging. Das halte ich für einen ganz wichtigen Punkt, wenn nicht sogar den Knackpunkt bei der Geschichte.“
Türken, Griechen, alles eins
Weshalb Ayyub nur Roja am Leben lässt, das erklärt sich Markus Keilhofer am liebsten so einfach wie möglich: weil sie eine Muslima ist, folglich mit dem Schützen unter einer Decke steckt, so wie alle anderen muslimischen Nachbarn auch. Und weil Keilhofer mit seiner Einstellung nicht allein ist, nie allein war, geht Auffing bald in rechter Hetze auf wie ein Haufen Zunder. „Mitbürger anderer Nationalitäten wurden auf offener Straße bespuckt und als ,Mörderschweine‘ beschimpft“, heißt es im Roman. Viele von ihnen trauen sich bald nicht mehr aus ihren Häusern – das betrifft die Türken genau wie die Griechen und alle, die aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Oberbayern gekommen sind.
„Bei der extremen Rechten heißt es: wir und die anderen“, sagt Seidl. „Genau wie bei der AfD. Es verspüren einfach viele Menschen eine Orientierungslosigkeit, eine Verunsicherung, eine Reduktion auf die reine Verwertbarkeit. Da besinnen sich viele auf ihre Herkunft, die angeblich etwas Besseres sei als die der anderen. Auch Salafisten arbeiten ja letztlich so. Ich möchte das nicht gleichsetzen, aber es ist interessant, das zu beobachten.“
Der Roman erzählt, wie nach dem Polizistenmord Fronten konstruiert werden, es wird aus- und abgegrenzt mit zunehmend unverhohlener Aggression. Wer genau nun „anders“ ist, das ist auch hier nie eine rationale Entscheidung, sondern eine Frage des Gefühls. Und das vorherrschende Gefühl ist der Hass. Der Bürgermeister erhält Drohbriefe, er sei „zu ausländerfreundlich“. Die AfD fordert Ayyubs Abschiebung. Und irgendwo in dieser Gemengelage sieht sich Markus Keilhofer berufen, Rache zu üben.
Die Bilder des Spezials
Terje Abusdal lebt und arbeitet in Oslo. Für seine Reihe Slash & Burn erhielt der 1978 im norwegischen Evje geborene Fotograf den renommierten Leica Oskar Barnack Award.
2014 studierte er in Aarhus an der Dänischen Schule für Medien und Journalismus und besuchte anschließend mehrere Meisterklassen. 2015 veröffentlichte er sein erstes Fotobuch Radius 500 Metres. In seinen Arbeiten, die in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen sind, widmet er sich vor allem den Themen Identität und Migration. Die Reihe Slash & Burn entwickelte sich zu einem Langzeitprojekt. Was bedeuten Tradition und Mystik? Wann gehört man zu einem Land, zu einer Gruppe? In Slash & Burn gelingt Terje Abusdal eine magische Annäherung an die Waldfinnen, eine historische naturverbundende Volksgruppe in Skandinavien. Bei ihnen sei „ganz unabhängig von deinem ethnischen Ursprung – das Kriterium der Zugehörigkeit eindeutig: Man spürt es einfach“. Die Bilder aus Slash & Burn erscheinen 2018 im Kehrer Verlag. Im Internet findet man Zugang zuseinem Werk unter: www.terjeabusdal.com
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.