London in den frühen Achtzigern, Ballettunterricht im Gemeindesaal: Zwei Mädchen schließen Freundschaft auf eine Weise, wie wohl nur Kinder das können. Spontan, impulsiv, kompromisslos. So bedingungslos nah werden sich die Erzählerin und Tracey nie wieder sein. Es ist die Geschichte einer wachsenden Entfremdung, die beinah schon im Augenblick der Begegnung einsetzt, als Unterschiede (verschiedene Nasen) und Gemeinsamkeiten (aber die Nase der anderen ist genauso „problematisch“) abgewogen werden. Zunächst ist das Gefühl des Zusammengehörens überwältigend. Beide leben in Sozialwohnungen; wo Tracey aufwächst, ist die Küche so eng, dass die Ofentür beim Öffnen knapp an der Wand vorbeischrammt. Kein Habitat fü
hen Achtzigern, Ballettunterricht im Gemeindesaal: Zwei Mädchen schließen Freundschaft auf eine Weise, wie wohl nur Kinder das können. Spontan, impulsiv, kompromisslos. So bedingungslos nah werden sich die Erzählerin und Tracey nie wieder sein. Es ist die Geschichte einer wachsenden Entfremdung, die beinah schon im Augenblick der Begegnung einsetzt, als Unterschiede (verschiedene Nasen) und Gemeinsamkeiten (aber die Nase der anderen ist genauso „problematisch“) abgewogen werden. Zunächst ist das Gefühl des Zusammengehörens überwältigend. Beide leben in Sozialwohnungen; wo Tracey aufwächst, ist die Küche so eng, dass die Ofentür beim Öffnen knapp an der Wand vorbeischrammt. Kein Habitat fXX-replace-me-XXX252;r eine Tänzerin, dafür legt sich die Mutter ins Zeug, um die Nachteile der Herkunft auszubügeln. Und da ist die größte Gemeinsamkeit: Tracey und die Erzählerin sind die einzigen nichtweißen Mädchen in der Tanzschule, „als hätte man ein Stück hellbraunen Stoff durchgeschnitten, um uns beide daraus zu machen“.Espadrilles und RingelshirtNicht zufällig fühlen die Mädchen sich wie geschneidert. Ihr Sinn für Mode hat Zadie Smith schon eine Fotostrecke in der Vogue eingebracht. Im Roman ist die Erzählerin der Ansicht, „Frauen glauben oft, Kleider können auf wundersame Weise alle Probleme lösen“. In ihrem Fall schaffen sie aber eher neue Probleme, sich zu kleiden ist nicht ihre Stärke. Ihre jamaikanische Mutter, die sich mit Espadrilles und Ringelshirts wie die französische Boheme kleidet, nutzt das Zeichensystem Mode dagegen perfekt, um ihre Identität mitzuteilen. So etwas muss man allerdings erst einmal haben: ein unverrückbares Selbstbild.Zadie Smiths Vorgängerromane wie London NW oder Von der Schönheit waren sensationell komponierte Porträts von Freundeskreisen und Familienbanden. Auch wenn hier eine einzelne Figur die gesamte Geschichte erzählt, ist Swing Time die logische Fortführung dieses Schreibens – ein mehrfacher Bildungsroman. Als die Freundinnen sich zunehmend voneinander entfernen, „Traceys ganz spezielle Grausamkeit“ immer stärker zutage tritt und man längst nicht mehr weiß, ob sie die Erzählerin gerade liebt oder verachtet, bleibt sie stets präsent. Im Hintergrund läuft auch die Geschichte der Mutter mit, deren wichtigste Lebensstationen wir Lesenden genau wie die Erzählerin erst mitbekommen, als die Würfel gefallen sind: neuer Partner, neue Partnerin, die Kandidatur für ein hohes politisches Amt. Diese Figur könnte anderswo locker einen eigenen Roman füllen. Nicht bei Zadie Smith, die uns in ihrem Schreiben lehrt, nicht aus den Augen zu verlieren, was sich am Rand des Blickfelds abspielt.Während Tracey eine Bühnenkarriere ansteuert, entscheidet sich die Erzählerin für ein Studium: Medienwissenschaften und Gender Studies, neue, unbelastete Fächer. Sie ahnt, dass Tracey als Tänzerin nicht nur zu beneiden ist. Durch Zufall kommt sie selbst an einen Job, den sie sich nicht hätte ausdenken können: Sie wird die persönliche Assistentin des Popstars Aimee. Diese hat es von der australischen Provinz in die großen Konzerthallen geschafft, gibt zwischen Fitnesseinheiten und Bühnenproben spirituelle Binsenweisheiten von sich und ist noch nie im Leben mit der Tube gefahren. Ihr Englisch ist dialektfrei – die Kreolsprache der Global Citizens. Die Erzählerin scheint keine Meinung zu Aimees Kunst zu haben und ist darum wie geschaffen für ihre Arbeit als Mädchen für alles Mögliche. Als Aimee eine Mädchenschule in Westafrika stiften will – die „Illuminated Academy for Girls“, man stelle sich die augenrollende Mutter der Erzählerin vor –, ist klar, wer sich darum kümmern darf.Ausgerechnet ein Tänzer, ein Kankurang – maskiert, orange angemalt, wankend und von überwältigender Schönheit – versperrt der Erzählerin nach ihrem Pflichtbesuch in Afrika den Weg zurück in den Alltag. Der Verkehr kommt zum Erliegen, sie verpasst ihre Fähre: „Es gab nur die Gegenwart, nur den Tanz.“ Sie kehrt ins Dorf zurück. Immer wieder. Sie ist keine Aktivistin wie ihre Mutter, ihr Handeln nicht politisch motiviert. Aber spätestens, als Aimee auf die Idee kommt, ein Baby zu adoptieren (mit Geld und einem guten Namen lassen sich bürokratische wie moralische Hindernisse schließlich mühelos beseitigen), wird klar: Ganz ohne Haltung geht es nicht.Hautfarbe relativIn der Elterngeneration scheinen sich Fragen der Zugehörigkeit halbwegs leicht verhandeln zu lassen. Der Vater identifiziert sich als Angehöriger der Arbeiterklasse, die Mutter über „Herkunft und Hautfarbe“. Für die Erzählerin ist der Schwebezustand normal. Kategorien sind durchlässig, Herkunft und Hautfarbe relativ. In London ist sie „braun“, in Westafrika weiß. Das Mantra der Mutter – „Leute wie wir! Leute wie wir!“ – befremdet sie, auch deshalb, weil sie sich nirgends am richtigen Ort fühlt. Ihr Blick ist immer einer von außen, der sich wundert. So gesehen ist es nur logisch, dass sie sich in Westafrika zwar fremd, aber auch wohl fühlt. Als der Kankurang zu tanzen beginnt und alle Menschen mitreißt, braucht sie gar nicht erst in der Amtssprache Englisch nach dem Grund für den Tumult zu fragen – der Ritus hat seine eigene Sprache. Sie versteht nichts und begreift viel: „Da ist sie, die Freude, nach der ich schon mein Leben lang suche.“Zadie Smith flicht ohne Umstände Fragen nach postkolonialer Verantwortlichkeit und deren Schatten, die absurden Charity-Gesten, in das ohnehin vielschichtige Narrativ ein. Mit Swing Time ist ihr, die heute in London und New York lebt, eine globale Erzählung gelungen. Vom Aufwachsen im Londoner Sozialbau in den 1990er Jahren über die Einführung in die New Yorker High Society bis zum Heimischwerden in der westafrikanischen Dorfgemeinschaft – hier kommen Zeiten, Orte und Gesellschaftsentwürfe zusammen, Fred Astaire und Michael Jackson, Swing und Pop. Ob Tracey, die begabte, wahrhaftige Tänzerin, am Schluss die beweglichere der Freundinnen ist, ist von vornherein fraglich. Auch dafür steht Swing Time: das Auf und Ab, das Hin und Her, das besonders die Erzählerin mit ihren eher improvisierten als choreografierten Orientierungsversuchen erlebt.Placeholder infobox-1
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