Letzte Welten, erste Sätze

Literatur Von Echo-Sätzen und der Rückkehr zum Anfang: Im-Kreis-Lesen als Gedankenspiel.

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Wieviel sagen erste Sätze über ein Buch aus - über das Können eines Autors oder einer Autorin, über die Qualität der Erzählung, über die Sogkraft, die eine Geschichte hat oder eben nicht? Ich habe mir nicht viele Gedanken darüber gemacht, ehe ich heute ein neues Buch begonnen habe, "Written on the Body" von Jeanette Winterson, und mir daraufhin auch die anderen ersten Sätze der Bücher angesehen habe, die ich zuletzt gelesen habe.

Hier sind sie:

Why is the measure of love loss?
Jeanette Winterson, Written on the Body.

Mit einer Frage einzusteigen, entspricht (wohl aus guten Gründen) nicht unseren Gewohnheiten; ich habe das Gefühl, dass eine Frage, noch dazu eine solche, eine Warumfrage, eine Grundsatzfrage, den Lesenden erstmal aus der Geschichte hinaus- und in die eigenen Gedanken hineinwirft. Es ist eine Stärke von Winterson, gleich darauf ganz und gar konkret zu werden. In den nächsten Sätzen wird beschrieben, was Barthes vielleicht tangibilia nennen würde. Dinge, die man anfassen kann. Die Bäume, die ihre Wurzeln nach regenlosen Monaten tiefer in den Boden graben, die Trauben, die nicht reifen. Und während man das liest, während dieses "Establishing Shot", der einen mit der neuen Umgebung des neu begonnen Romans vertraut macht, hallt die Frage nach. Why is the measure of love loss?

Ein Orkan, das war ein Vogelschwarm hoch oben in der Nacht; ein weißer Schwarm, der rauschend näherkam und plötzlich nur noch die Krone einer ungeheuren Welle war, die auf das Schiff zusprang.
Christoph Ransmayr, Die letzte Welt.

In diesem Satz steckt viel mehr als nur eine Beschreibung der Begebenheiten, auch er liefert eben keinen bloßen "Establishing Shot" (wir sind auf dem Meer, auf einem Schiff, und es ist stürmisch). Stattdessen nimmt er vieles vorweg, oder besser: führt auf verdammt gekonnte Weise ein, worum es später, im Verlauf des Romans, gehen wird. Um Verwandlungen nämlich, um ganz bestimmte Metamorphosen, aber auch um eine verwandelte, veränderte Wahrnehmung. Auch stilistisch verspricht der erste Satz viel von dem, was der Roman halten wird, nämlich eine bildreiche, poetische, starke und wagemutige Sprache, die oft unkonventionell und manchmal sperrig ist. Ich mochte dieses Buch sehr - nicht zuletzt wegen genau dieser beeindruckenden Sprache.

Late in May 2001, about ten days after I saw him for the last time, Mats Sigfridsson was hauled out of Malangen Sound, a few miles down the coast from here.
John Burnside, A Summer of Drowning.

Eigentlich perfekt. Wenn das eine Meldung in der Zeitung wäre. Hier werden alle W-Fragen geklärt, mit großer Präzision, es gibt eine genaue Zeitangabe, einen vollständigen Namen, einen - wenn auch den meisten in unseren Breiten ungewohnten - genau benannten Handlungsort. Aber es wird auch sofort in medias res gegangen, was den Plot angeht: Aha, zum letzten Mal gesehen, diesen Mats Sigfridsson? Aus dem Wasser gefischt? Das klingt nicht nach einem natürlichen Tod und damit ziemlich nach Genreliteratur, ein Krimi-Einstieg wie aus dem Lehrbuch. Es ist Burnside zu Gute zu halten, dass er sich im Lauf der Handlung immer weiter von Genrezuschreibungen entfernt. Trotzdem kommt er meines Erachtens nicht über einen hochnotkonventionellen Erzählstil hinaus und man muss beim Lesen über einige Klischees hinwegsehen.

Ich kann natürlich nicht genau sagen, welchen Stellenwert diese ersten Sätze im Allgemeinen und im Besonderen haben. Aber ich habe gemerkt, dass es sich lohnt, sie wieder und wieder zu lesen, Anfang und Ende als Sinneinheit zu betrachten und nicht als zwei Klammern, die in größtmöglichem Abstand voneinander stehen. Es ist ein Gedankenspiel, mehr nicht, und die Gefahr ist groß, dass man die ersten Worte künstlich mit Bedeutung auflädt, wenn man allzu viel Hirnleistung darauf verwendet, nach Tieferem zu suchen. Aber Gedankenspiele machen eben Spaß.

Jetzt aber zurück zu Winterson, deren Frage immernoch ein Echo ist, und apropos Echo: Da sind wir doch sowieso schon wieder bei Ransmayr.

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