Nanae Aoyama, so sagt sie von sich selbst, ist 24 Stunden am Tag Schriftstellerin. Ihr sind aber auch noch die Zeiten sehr präsent, an denen es anders war. Als sie mit dem Schreiben begonnen hat, hatte sie einen Job in einem Reisebüro. Um zur Arbeit zu fahren, nahm sie die Keio-Linie – die Zugverbindung zwischen den Tokioter Vororten, wo sie lebte, und dem hektischen Stadtteil Shinjuku, wo sie arbeitete. Auf der Fahrt passierte der Zug einen Tunnel. In den fünf Minuten, die der Zug unterirdisch fuhr, wurde sie von der Autorin zur Angestellten. Und umgekehrt fuhr sie auf dem Rückweg als Angestellte in den Tunnel und kam als Schriftstellerin wieder heraus. So jedenfalls erzählt sie es auf ihrer Lesereise durch Deutschland, in Begleitung ihrer Verlegerin Katja Cassing (Pseudonym als Übersetzerin: Katja Busson), die auch bei den Veranstaltungen dolmetscht, sie zu Presseterminen begleitet und ihr nebenbei noch Köln, Frankfurt und Berlin zeigt.
Stadt, Land, Überdruss
Solche klaren Übergangsriten von einem zum anderen Leben haben die Figuren in ihren Erzählungen und Romanen nicht. Oft sind sie unschlüssig, lassen sich treiben. In Eigenwetter, Aoyamas erstem ins Deutsche übersetzten Roman, zieht eine junge Frau bei einer alten ein. Chizu ist 20 und hat keine Lust auf ein Studium, aber was sie sonst will, weiß sie auch nicht. Nur dass sie unbedingt nach Tokio möchte. Ihre Mutter ist ohne sie nach China gezogen, der Freund distanziert sich. Die Unterkunft bei der alten Ginko kommt ihr also gerade recht. Schnell verwischen die Grenzen, wer sich um wen kümmert. „Die macht’s nicht mehr lang“, sagt Chizu anfangs über die alte Frau, aber die hat Besseres zu tun, als auf den Tod zu warten. Ginko geht tanzen, hat einen Freund und vor allem eine Menge Spaß am Leben. Sie verbringen ein gemeinsames Jahr, vom Frühling bis zum Winter. Unaufgeregt und scheinbar beiläufig erzählt Nanae Aoyama von existenziellen Fragen: In Japan sind Biografien wie Chizus keine Ausnahme. Für junge Menschen, die nach der Oberschule weder auf der Uni noch im Beruf Fuß fassen können (oder wollen) und sich mit Teilzeitjobs durchschlagen, gibt es einen eigenen Begriff, man nennt sie Freeter.
Der Roman wurde 2007 mit dem renommierten Akutagawa-Preis ausgezeichnet. Zuvor hatte Aoyama schon mit ihrem Debüt, einer Novelle, für Aufsehen gesorgt. Durch den Tunnel, der aus ihr eine Mitarbeiterin im Reisebüro macht, muss sie jedenfalls nicht mehr. Jetzt, mit Mitte 30, hat sie 15 Romane, Novellen und Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht, dazu zahlreiche Beiträge in Anthologien, ganz genau weiß sie es nicht.
Der Unterschied von Land und Stadt spielt bei Aoyama fast immer eine Rolle, auch in ihrem neuen Erzählungsband Bruchstücke. In einem der drei Prosatexte bekommt eine Tokioterin Besuch von ihrer deutlich jüngeren Cousine, die auf der entfernten Insel Iriomote zur Schule geht und sich in den Sommerferien die Unis in der großen Stadt ansehen will. Es entsteht eine Zweckgemeinschaft, die nicht nur für Außenstehende schwer einzuordnen ist – sie sind „weder Mutter und Tochter noch Schwestern oder Freundinnen“. Trotzdem, oder gerade weil ihre Beziehung sich konventionellen Zuschreibungen entzieht, entsteht eine Bindung zwischen ihnen, die sie beide verändert. Dabei ist ihre Beziehung nicht frei von Konflikten. Kleine Kränkungen werden heruntergeschluckt, der Anlass für offene Streitereien – das Mädchen weigert sich, Hausschuhe anzuziehen – wirkt banal. Darunter lässt sich jedoch noch eine tiefere, ganz elementare Zerrissenheit erahnen.
In der Erzählung Farinas Zimmer hat der Protagonist noch immer den Schlüssel zur Wohnung seiner Exfreundin. Andere Autoren würden ihn dort wahrscheinlich eine Menge Chaos stiften oder im Privatleben der Verflossenen herumschnüffeln lassen. Nanae Aoyama dagegen reizt auf beeindruckende Weise die Spannung des Möglichen aus, die Momente auf der Schwelle, im übertragenen wie im tatsächlichen Sinn. Immer wieder schaut er hinauf zu Farinas Wohnung, um zu sehen, ob sie noch dort und alles beim Alten ist oder ob längst neue Gardinen vor den Fenstern hängen.
Alltag voller Abenteuer
Dieser Blick aus der Distanz macht auch die Titelgeschichte aus. Darin macht sich die Protagonistin Kiriko mit ihrem Vater zu einer Kaffeefahrt auf; es sollte ein Familienausflug zu einer Kirschbaumplantage werden, aber alle anderen haben abgesagt. Im Bus werden sie von den anderen Fahrgästen beäugt. Außer ihnen sind nur ältere Ehepaare an Bord, eine Familie mit Kindern und Gruppen von Frauen. Diese Vater-Tochter-Konstellation ist in Japan viel ungewöhnlicher, als sie es in Europa wäre: Mittlerweile werden Väter zwar präsenter in den Familien, aber lange war die Kindererziehung ausschließlich Frauensache und die Väter abwesend. „Tatsächlich konnte ich mich nicht erinnern, mit meinem Vater jemals einen Ausflug unternommen zu haben“, sagt die Erzählerin in Bruchstücke.
Nur zögerlich weichen die Rollenmuster auf. Die Rolle der Literatur in solchen Veränderungsprozessen? Nanae Aoyama hat keine Message, die sie mit ihren Texten auf Gedeih und Verderb transportieren möchte. Was sie in ihren Erzählungen beschreibt, sind keine großen Veränderungen, keine Katastrophen oder Zäsuren. „Ich denke, der Alltag bietet genug Abenteuer, wenn man nur hinguckt“, sagt sie. Aber zu zeigen, dass es auch andere, unkonventionelle Lebensweisen gibt, dass man andere Richtungen einschlagen kann als die, die alle nehmen – das würde sie sich zumindest wünschen.
„In Japan unterhält man sich außerdem kaum über die eigenen Gefühle, und in der Pubertät sprechen viele Jugendliche gar nicht mit den Eltern, oder sie rasseln regelrecht aneinander“, erläutert Aoyama. „Das ändert sich oft erst, wenn die Kinder selbst Eltern werden. In der Erzählung ist die Hauptfigur noch nicht Mutter geworden, aber die Kirschbaumplantage kommt durch Zufall als Helfer dazu und sorgt dafür, dass sie den Vater besser kennenlernt.“ Die Gespräche zwischen Vater und Tochter kommen aber nur stockend in Gang. Kiriko hält sich lieber an ihre Kamera, schließlich besucht sie einen Fotografiekurs und erhofft sich ein paar schöne Landschaftsaufnahmen. Durch die Linse gewinnt sie Abstand – und findet sich in der Rolle einer Beobachterin wieder, die auch ihren Vater plötzlich mit anderen Augen sieht. Oder: die ihren Vater überhaupt einmal sieht. Aus der Ferne schaut sie zu, wie er, der so groß ist, den anderen beim Kirschenpflücken hilft. Das Bild lässt sich schwer zusammenfügen mit dem, das Kiriko ansonsten von ihrem Vater hat. Sie erinnert sich an eine Handgreiflichkeit zwischen ihm und ihrem Bruder, eine Situation, die sie auch mit viel Abstand nicht zu deuten weiß.
Nanae Aoyama selbst ist auf dem Land in der Nähe eines Flusses aufgewachsen, wo sie als Kind sehr viel Zeit verbracht und das Wasser angesehen hat, in dem Wissen, dass sie immer nur ein kleinen Abschnitt kennt und der große Zusammenhang – das Meer – verborgen bleibt, vielleicht auch unvorstellbar. So ähnlich, sagt sie, geht es ihr auch jetzt noch beim Lesen, und sie liest viel. Dadurch lernt sie zwar immer mehr, aber auch dieses Wissen bleibt immer fragmentarisch. Bruchstücke eben, so lautet auch das Thema des Fotokurses, den die Ich-Erzählerin besucht. „Alles, was hier ist, alles, was du siehst. Ich, du, die Glocke“ – für Kirikos Vater besteht alles nur aus Bruchstücken. Ehe das Gespräch allzu philosophisch wird, steht Kiriko auf und geht.
Die Kurzgeschichte orientiert sich an einer Anekdote, die Aoyama von einer Freundin erzählt bekam, nur Details hat sie dazuerfunden – normalerweise ist das Mischungsverhältnis aus Erlebtem und Fiktivem in ihren Texten umgekehrt, wenn überhaupt; eigene Erfahrungen kommen höchstens am Rande vor. Die Freundin habe sich gefreut, dass Bruchstücke an ihre Erlebnisse angelehnt sei, sagt sie, auch die Mutter der Freundin kenne die Erzählung und finde sie schön. Ob der Vater sie gelesen hat, weiß Nanae Aoyama nicht.
Info
Bruchstücke Nanae Aoyama Katja Busson, Frieder Lommatzsch (Übers.), Cass 2018, 157 S., 17 €
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