Schräge Vögel auf Himmelfahrt

Junge Literatur Marjana Gaponenkos Roman "Wer ist Martha?" nimmt die LeserInnen mit auf die vorletzte Reise eines ganz speziellen Romanhelden.

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Schräge Vögel haben ihren Nistplatz in der Literatur schon lange sicher. Kauzige Außenseiter erzählen eben die interessanteren Geschichten als Romanhelden mit einem geraden Lebenslauf, und die Assozationskette, die man gemeinhin mit ihnen verbindet, ist so schillernd bunt und breitgefächert wie ein Pfauenrad. Da scheint es nur konsequent, dass die verschrobene Hauptfigur aus Marjana Gaponenkos Roman „Wer ist Martha?“ ein einst angesehener und nun emeritierter Ornithologe ist, der mit den Vögeln so eingehend beschäftigt ist, dass er für seine menschlichen Zeitgenossen nur wenig Aufmerksamkeit übrig hat.
Als der Roman einsetzt, neigt sich Lewadskis Leben bereits dem Ende zu. Er ist 96, sterbenskrank und allein. Als sein Arzt ihm die Diagnose übermittelt – telefonisch – würde Lewadski ihm am liebsten etwas zwitschern. Schließlich hat er in seiner wissenschaftlichen Karriere die Sprache der Raben gelernt. So kurz vor dem Ende nimmt die Vergangenheit stetig Besitz von ihm. Die Auslöser seiner rauschhaften Erinnerungen sind zumeist sehr sinnliche: Er denkt an den besten Schokoladenkuchen seines Lebens, den seine Mutter ihm im besten Hotel in Wien bestellt hat, und an die klassische Musik, die ihm seine Großtanten nahgebracht haben. Doch Lewadski gibt sich nicht damit zufrieden. So nah, wie ihm der Tod ist, entscheidet er sich noch einmal für das gar nicht üble Leben. Lewadski kleidet sich ein. Er kauft einen Spazierstock, schneeweiße Taschentücher und Hemden mit Perlmuttknöpfen. Und in seinem Aufzug als skurriler Dandy tritt er seine vorletzte Reise an: noch einmal nach Wien, noch einmal ins Hotel Imperial, noch einmal zu diesem himmlischen Schokoladenkuchen! Bis zu seinem Ende will er in der besten Suite des Hauses bleiben.
Das Hotel Imperial in der Wiener Ringstraße, in den 1860er Jahren erbaut, ist auch in Wirklichkeit ein Ort, an dem die Zeit wie stehengeblieben scheint. Hier herrscht noch ein Flair, das mehr aristokratisch als bürgerlich ist: ausgeleuchtet von Kronleuchtern, mit Sienna-Marmor verkleidet und von Butlern beseelt. Die Zimmermädchen heißen hier Stubenmädchen, man fühlt sich unweigerlich an die Zeit der Grand Hotels erinnert, die auch Wes Anderson in seinem neusten Film aufs Schönste zelebriert. Doch mitten an diesem aus dem Jetzt gefallenen Ort kehrt Lewadski in die Gegenwart zurück. Er trifft ausgerechnet im Lift den ebenfalls alleinstehenden Herrn Witzturn, ähnlich vergreist und ähnlich lebenshungrig wie er selbst. Ein allzu glücklicher Zufall, der einen an der Glaubwürdigkeit des Erzählers leise zweifeln lässt. Die Aufzugfahrt ist Lewadskis Pendant zur Himmelfahrt, aber bis es endgültig nach ganz oben geht, werden noch einige Stücke Schokoladenkuchen verspeist, einige Cocktails in der Hotelbar getrunken und einige komisch-kluge Dialoge geführt.
Marjana Gaponenko, die in der Ukraine geboren wurde und mittlerweile in Berlin und Wien lebt, erzählt Lewadskis letzte Reise mit viel Witz, in einer Sprache voll eigensinniger Poesie. So heißt etwa Lewadskis Diplomarbeit „Die Rechenschwäche der Rabenvögel“: Ein Titel, der so eigentümlich melodisch klingt, dass man dem Protagonisten und seinen Tanten gar nicht erst ins Konzerthaus folgen muss, um die Musikalität in Gaponenkos Schreiben zu erahnen.

Marjana Gaponenko: Wer ist Martha?

Suhrkamp (2012)

19,95 €

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