Überreste des Zorns

Jugoslawien Goran Ferčec’ Debüt „Wunder wird es hier keine geben“ ist ein kleines, subtiles Meisterwerk
Ausgabe 18/2021
Hunde sind zu leicht, sie bringen die Tretminen nicht zur Explosion
Hunde sind zu leicht, sie bringen die Tretminen nicht zur Explosion

Foto: Armend Nimani/AFP/Getty Images

Bender, die Hauptfigur in Goran Ferčec’ erstem Roman, ist laut Auskunft des Erzählers ein ganz und gar durchschnittlicher Mensch: „bestehend aus kaum zu verbindenden ererbten Bruchstücken. Schwache Blase. Hämorrhoiden. Zweifel in Bezug auf die eigenen Standpunkte. Guter Sinn für Humor. Ausgeprägte Halbmonde an den Finger- und Fußnägeln. Misstrauen gegenüber der Sprache. Angst vor dem Tod.“ Seiner Gewöhnlichkeit zum Trotz scheint er im Leben immer vom Schlimmstmöglichen auszugehen. Im eigenen Hausflur fühlt er sich in etwa so unwohl wie in der Unübersichtlichkeit eines Demonstrationszuges oder nachts am U-Bahnhof. Ein Hund, dem er die Hand zum Biss hinstreckt, schnappt nicht zu. Wenige Seiten später wird Bender nachts in einem Park verprügelt, als er sich in der Hoffnung auf Sex einer Gruppe Männer annähert. Versehrt und gedemütigt macht er sich auf den Heimweg: „Im Lichte der Straßenlampe überblickt er die gesamte Katastrophe jenen Augenblicks, in dem Begehren auf Aggression getroffen ist.“ Der Erzähler schildert banale Alltagshandlungen und Benders Gewalterfahrungen in derselben minutiösen Weise, ohne Kadenzen. Bender selbst scheint jegliches Sensorium dafür zu fehlen, zwischen harmlosem Alltag und realer Gefahr unterscheiden zu können. Oft wirkt er passiv, resigniert – aber da ist noch etwas anderes: eine tiefe Dissoziation.

Bender lebt in einer recht desolat wirkenden Mietskaserne irgendwo im sogenannten Westen. Dorthin ist er einst vor dem Krieg in Jugoslawien geflohen, das Dorf, in dem er aufgewachsen ist, wurde fast vollständig zerstört. Seine Eltern sind geblieben, er nicht: Die Verbindung ist lang gekappt, als aus heiterem Himmel (wenn nur der Himmel in Ferčec’ Roman jemals heiter wäre) sein Vater anruft. Benders Mutter wird seit zehn Tagen vermisst, und er bittet den Sohn um Hilfe. Der macht sich prompt auf den Weg und kehrt zurück an einen Ort, den es nicht mehr gibt – Wunder findet er dort, in Ex-Jugoslawien, ebenso wenig wie auf dem heimischen Balkon. Außer dem Vater ist niemand mehr im Dorf anzutreffen, einzig ein junger Mann, der nur „der Bursche“ genannt wird und der erstaunlicherweise immer zur Stelle ist, um Bender aus der Bredouille zu helfen. Und dann sind da die Hunde, die nach dem Krieg erst gezähmt, dann wieder ausgewildert und schließlich in großer Zahl getötet wurden. Nur vereinzelt irrt noch mal ein Exemplar umher.

Aus dem Hotel ragen Bäume

So wurden aus den Häusern der Nachbarn zunächst Hundehütten, nun sind sie selbst von den Streunern verlassen, und Benders Vater steht zwischen den Ruinen wie in den „Überreste(n) seines Zorns“. Aus dem Dach des einstigen Hotels ragen Bäume. Laut dem britischen Kulturtheoretiker Mark Fisher sind derartige An- und Abwesenheiten konstitutiv für das Gespenstische – „the eerie“: „There is something where there should be nothing, or there is nothing where there should be something.“ Zu Beginn des Romans hechtet Bender durchs Stiegenhaus, um vor dem fahrenden Lift im Erdgeschoss anzukommen und zu sehen, wer dort aussteigt. Als sich die Tür öffnet, ist der Aufzug leer. Momente des Gespenstischen und Unheimlichen kontrastieren einen Humor, wie er denjenigen eigen ist, denen Schlimmes widerfahren ist: trotzig, voll von Leben, niemals zynisch.

Bender fällt nicht auf, dass es einen neuen Tisch im Esszimmer gibt: „Unserer war größer“, sagt der Vater nur. Die Objekte, die Häuser selbst erzählen auf eigene Weise vom Krieg. Soldaten trugen fort, was immer ihnen brauchbar erschien, und wenn die geflohenen Nachbarn ihr Hab und Gut zurückgelassen haben, warum hätte man es sich nicht nehmen sollen? Der Krieg scheint sich an seinen Schauplätzen jedoch nicht bloß in materiellen Erinnerungsstücken und Einschusslöchern in der Küchenwand zu manifestieren – sondern auf die eine oder andere Art noch anzudauern. Die Hunde sind zu leicht, um die verbliebenen Tretminen auszulösen. Für Menschen gilt das freilich nicht. Wenn Bender und sein Vater eine Motorsäge brummen hören, kann das nur bedeuten, dass der nahe gelegene Truppenübungsplatz demontiert wird, aber es steht noch genügend Kriegsgerät in der Landschaft, um ständig erinnert zu werden. Als Leserin fragt man sich nicht, weshalb Benders Mutter fort ist, sondern wie sie es überhaupt geschafft hatte, zu bleiben. Der Begriff des Zeugen ist in Wunder wird es hier keine geben zentral und fällt immer häufiger, je mehr der Roman auf sein Gravitationszentrum zusteuert. Als Geflüchteter ist Bender kein Zeuge der Geschehnisse im Dorf. Seinen Blick auf die Welt muss er ständig neu kalibrieren.

Was den Roman sprachlich kennzeichnet, ist vielleicht in erster Linie seine Syntax: Die Sätze sind knapp bis elliptisch, der Duktus fast lapidar. Es gibt jedoch auch eine Ausnahme, ein Kapitel, in dem aus Sicht des Vaters buchstäblich ohne Punkt und Komma der Krieg rekapituliert wird, so als würde beim Erzählen von dieser individuellen und kollektiven Katastrophe jedes sprachliche Ordnungsprinzip ausgehebelt. Der Vater tritt als Zeuge vor ein Gericht, das es nicht gibt – sein Bericht ist ein Monolog, atemlos und gleichförmig. Diese Verdichtung zeichnet sich in den ziellos wirkenden ersten beiden Dritteln des Romans nicht ab. Doch kaum rechnet man nicht mehr damit, spitzt sich die Handlung gen Ende enorm zu, um schließlich auf etwas zuzusteuern, das man als großes Unheil bezeichnen könnte oder als Katharsis. Um so zu schreiben, muss man sich erstens etwas trauen und zweitens viel von Dramaturgie verstehen. Dass Ferčec vor seinem Prosadebüt viel für die Theaterbühne gearbeitet hat – seine Stücke wurden etwa in Leipzig oder Graz gespielt – merkt man diesem souveränen ersten Roman in seiner szenischen Dichte und der pointierten Sprache an. Dem wird auch Mascha Dabićs hervorragende Übersetzung gerecht.

Info

Wunder wird es hier keine geben Goran Ferčec Mascha Dabić (Übers.), Residenz 2021, 288 S., 22 €

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