Viel ist geredet worden über Armutsmigration, Hartz IV-Missbrauch oder Sozialtourismus. Die politische Konjunktur solcher Begriffe spült sie bei Bedarf in die öffentliche Debatten, löst entsprechende Reaktionen aus und flacht dann wieder ab – bis zum nächsten Mal. Ob das dürftige Wahlergebnis der CSU bei der Europawahl vor einem Monat ein Beleg dafür ist, dass das Spielen mit rechtspopulistischen Themen ohne Erfolgsaussichten ist, scheint wenig wahrscheinlich: Die Verpackung mag Geschmacksfrage sein, der Inhalt wiederum bleibt oft der selbe.
Mit der Ankündigung von Gesetzesverschärfungen zur Eindämmung des vermeintlichen Problems „Sozialmissbrauch“ zeigt sich die Bundesregierung derweil inhaltlich voll auf CSU-Kurs. Mit Wiedereinreisesperren und ähnlichen Repressionen soll der vermeintlich massenhafte Bezug ungerechtfertigter Leistungen von Einwanderern unterbunden werden. Es ließe sich die notwendige Frage stellen, was Migration mit Armut zu tun hat. Mit der Verwendung des Begriffs der „Armutsmigration“ wird diese Debatte jedoch häufig übersprungen und ein Zerrbild der Wirklichkeit geschaffen.
Zahlen helfen weiter
Die seit längerem laufende Debatte ist dabei untrennbar mit der seit diesem Jahr wirksamen uneingeschränkten Freizügigkeit von Menschen aus Rumänien und Bulgarien verbunden. Zuwanderung aus diesen relativ armen EU-Mitgliedsstaaten führte hierzulande bereits zu angstbeladenen Kontroversen. Ein Blick auf die Fakten hilft derweil. Gerne wird die Antwort auf eine Anfrage der Grünenfraktion zitiert, bei der die Bundesregierung die Zahl der Verdachtsfälle von Sozialleistungsbetrug durch Rumänen und Bulgaren mit 112 angab, bezogen auf die bundesweite Kriminalstatistik von 2012.
Auch andere Untersuchungen, wie der Bericht eines Staatssekretärausschusses, sprechen eine deutliche Sprache und verbieten Pauschalurteile über massenhafte Inanspruchnahme von Sozialhilfe. Im Januar 2014 waren 3,14 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos, davon waren jeweils um die 0,3% Rumänen und Bulgaren. Und auch die Arbeitslosenquote von rumänischen und bulgarischen Menschen in Deutschland liegt mit 10% unter der des Durchschnitts von Nicht-Deutschen, nämlich 16%.
Menschen hinter den Zahlen
Diese Aufreihung von Zahlen ließe sich weiter fortführen. Hinter statistischen Erhebungen stehen aber individuelle Schicksale, denen diese Herangehensweise nicht gerecht wird. Um einen Einblick in die Realität von eingewanderten Menschen zu erhalten, organisierte der Berliner Verein Amaro Foro in der letzten Woche ein Treffen mit drei Rumänen, die von ihrem Werdegang berichteten. Amaro Foro unterstützt Bulgaren und Rumänen, die aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland gekommen sind. Der Verein vermittelt Kontakte, leistet juristischen Beistand oder hilft durch das bürokratische Labyrinth.
Angesichts der alltäglichen Auseinandersetzung mit den Menschen und ihren Geschichten wirkt die mediale Debatte zynisch, gerade wenn aus nackten Prozentpunkten persönliche Probleme werden. Nelu, Maria und Liliana sind klassische Fälle. Alle drei kommen aus Rumänien, alle drei sind seit kurzem in Deutschland und alle drei stehen vor großen Schwierigkeiten. Ihre Geschichten stehen beispielhaft für systemische Probleme, die viele Menschen aus Rumänien und Bulgarien betreffen – egal ob Roma oder nicht.
Maria und Nelu sind zusammen mit ihren zwei Kindern vor wenigen Monaten nach Deutschland gekommen, nachdem sie nach der Räumung aus ihrer Wohnung in Bukarest die letzten Jahre in Spanien lebten. Nach den ersten Tagen auf der Straße fanden sie Platz in einer studentischen Wohngemeinschaft, die dankenswerterweise ein Zimmer für die Familie freiräumte. Während die Kinder mittlerweile in die Schule gehen, befinden sich die Eltern auf der Suche nach mehr Arbeit; sie sind zwar bereits beschäftigt, doch sowohl Umfang als auch Bezahlung reicht bei weitem nicht aus. Trotzdem ist ihr offizieller Status der von Arbeitssuchenden, wodurch Unterstützung des Jobcenters nicht in Frage kommt. Das hat insbesondere Auswirkungen auf die Kinder, die nicht wie ihre Mitschüler die von der Schule geforderten drei Paar Schuhe besitzen und so im Zweifelsfall am Sportunterricht nicht teilnehmen können.
Wie die Anträge ans Jobcenter von Maria und Nelu werden auch die von Liliana kontinuierlich abgelehnt. Sie ist mit ihrem Mann seit 11 Monate in Berlin, beide zusammen verdienen um die 800 Euro im Monat, nur bekommen sie damit keinen Mietvertrag. In Verbindung mit der Tatsache, dass Liliana schwanger, aber weder in Deutschland, noch in Rumänien krankenversichert ist, ergibt sich eine mehr als prekäre Lage. Schwangere Frauen ohne Krankenversicherung sind den Mitarbeitern von Amaro Foro nicht fremd, im Gegenteil. Von ihnen gestellte Anträge auf Nothilfe bei der Geburt werden erfahrungsgemäß abgelehnt, berichten sie. Übrig bleiben damit nur die Möglichkeit einer hohen Verschuldung oder die Hoffnung, dass Krankenhäuser im Notfall Milde walten lassen. Trotz der Bemühungen Lilianas und der professionellen Unterstützung durch den Verein sind die Zukunftsaussichten schlecht.
Produktion von Armut
Sprachkurse, die alle drei gerne besuchen würden, können nicht bezahlt werden. Hier wäre das Jobcenter die entscheidende Anlaufstelle und könnte gezielt helfen. Eines ist allerdings klar: Unabhängig davon, ob und in welchem Maße staatliche Unterstützung gewährt wird, sich die Beschäftigungsverhältnisse verbessern oder ein fester Wohnort gefunden wird, Liliana, Nelu und Maria werden bleiben. Auch bei dem schlimmstmöglichen Szenario ergeht es ihnen hier besser als in Rumänien. Wie also damit umgehen? Institutionelle Diskriminierung tolerieren und die Menschen in unwürdigen Bedingungen leben lassen?
Der Mythos des „Sozialmissbrauchs“ in Verbindung mit der Angst vor „Armutseinwanderung“ bildet einen realitätsfernen Zustand ab. Ungeachtet der Tatsache, dass es Länder gibt, in denen die Menschen schwierigeren Verhältnissen ausgesetzt sind als in der Bundesrepublik, wird die Armut der hier lebenden Menschen nicht als etwas Fremdes „zu uns“ gebracht. Armut wandert nicht ein, sie wird hier produziert: auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche, durch öffentliche Einrichtungen. Zynische Debatten, die das Problem verkennen, mögen je nach konjunktureller Lage mal zu Wahlerfolgen, mal zu Wahlniederlagen führen. An der Situation der hier lebenden Menschen verbessern sie nichts.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.