WikiLeaks: Das Ende der Unschuld

Geheimdienste Julian Assange, der vor zwei Jahren in die ecuadorianische Botschaft in London floh, hat den Mythos von der Freiheit des Westens zunichte gemacht
Julian Assange spricht 2012 vom Balkon der ecuadorianischen Botschaft in London
Julian Assange spricht 2012 vom Balkon der ecuadorianischen Botschaft in London

Foto: Rosie Hallam/ AFP/ Getty Images

Wir begehen die Jahrestage wichtiger Ereignisse unserer Zeit: den elften September (Anschläge auf das Word Trade Center 2001, Militärcoup gegen Allende in Chile 1973), D-Day, etc. Vielleicht sollten wir ein weiteres Datum dieser Liste hinzufügen: den 19. Juni.

Die meisten von uns gehen tagsüber gerne mal für eine Weile raus, um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Wer das nicht tut, den hindert entweder seine Arbeit als Bergarbeiter oder U-Boot-Fahrer, oder eine seltene Krankheit, die Sonnenlicht zu einer tödlichen Gefahr werden lässt. Selbst Gefangene erhalten täglich eine Stunde Freigang.

Am 19 Juni vor genau zwei Jahren wurde Julian Assange dieses Rechtes beraubt: Seitdem sitzt er in einer Wohnung in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Würde er einen Schritt vor die Tür machen, würde er umgehend verhaftet werden. Womit hat er das verdient? Assange und seinen Whistleblower-Kollegen wird oft vorgeworfen, sie seien Verräter. Aber sie sind (in den Augen der Behörden) etwas noch viel schlimmeres.

Assange nannte sich selbst einen „Spion für das Volk“. Für die Bevölkerung zu spionieren ist nicht einfach Verrat (das würde bedeuten, als Doppelagent zu agieren und die Geheimnisse dem Feind zu verkaufen); es ist etwas sehr viel radikaleres und untergräbt das eigentliche Prinzip der Spionage: die Geheimhaltung – schließlich geht es darum, Geheimnisse öffentlich zu machen. Menschen, die WikiLeaks helfen, sind keine Whistleblower mehr, die die illegalen Praktiken privater Unternehmen (Banken, Tabak- und Ölunternehmen) den Behörden melden. Vielmehr stellen sie die Behörden selbst vor der Öffentlichkeit an den Pranger.

Wir haben zwar durch WikiLeaks nichts erfahren, was wir nicht schon ahnten – aber es ist eine Sache, etwas zu vermuten oder abstrakt von seiner Existenz zu wissen und eine andere, über konkrete Daten und Fakten zu verfügen. Es ist ein bisschen so, wie wenn man weiß, dass der Partner fremdgeht. Das abstrakte Wissen oder die Ahnung kann man vielleicht noch akzeptieren, doch wenn man die intimen Details erfährt und konkrete Bilder zu sehen bekommt, wird es schmerzhaft.

Sollte nicht jeder US-Bürger von tiefer Scham ergriffen werden, wenn er mit solchen Tatsachen konfrontiert wird? Bislang reagierten wir Durchschnittsbürger mit heuchlerischer Verleugnung und zogen es vor, die Drecksarbeit der Geheimdienste zu ignorieren. Von nun an können wir nicht mehr so tun, als wüssten wir von nichts.

Es reicht nicht, in WikiLeaks ein anti-amerikanisches Phänomen zu erkennen. Staaten wie China und Russland sind viel repressiver als die USA. Stellen Sie sich nur vor, was mit jemandem wie Chelsea Manning vor einem chinesischen Gericht passiert wäre. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte es keine öffentliche Verhandlung gegeben und sie wäre einfach verschwunden.

Die USA behandeln ihre Gefangenen mit weniger Brutalität, weil ihre Priorität im Bereich der Technologie liegt. Sie brauchen die offene Brutalität einfach nicht. (Wenn sie gebraucht wird, steht sie allerdings nur allzu bereit.) Das ist aber genau der Grund, weshalb die USA sogar eine noch größere Gefahr für unsere Freiheit darstellen als China: Während die Brutalität der chinesischen Staatsführung offen zutage liegt, werden die Kontrollmöglichkeiten der USA und anderer westlicher Staaten gar nicht als solche wahrgenommen.

In einem Land wie China sind die Einschränkungen der Freiheit jedem bewusst. Keiner gibt sich Illusionen hin. In den USA hingegen sind die Freiheiten formell garantiert, so dass die meisten Menschen ihr Leben als frei empfinden und erfahren. Sie sind sich des Ausmaßes, in dem sie durch staatliche Mechanismen kontrolliert werden, noch nicht einmal bewusst. Whistleblowers tun etwas sehr viel wichtigeres als das allzu Offensichtliche festzustellen, indem sie offen repressive Regime kritisieren: Sie zeigen öffentlich die Unfreiheit auf, die den Verhältnissen, in denen wir uns als frei erfahren, zugrunde liegt.

Im Mai 2002 wurde darüber berichtet, Wissenschaftler an der New York University hätten am Gehirn von Ratten Computerchips angebracht und seien nun in der Lage, einfache Signale direkt an das Gehirn der Tiere weiterzugeben. Mithilfe eines Steuerungsmechanismus wie er bei Spielzeugautos verwendet wird, könnten sie nun die Bewegungen der Tiere kontrollieren. Zum ersten Mal wurde der freie Wille eines Lebewesens von einer externen Maschine übernommen.

Wie die unglücklichen Ratten wohl die von außen vorgegebenen Bewegungen wahrgenommen haben? Haben sie überhaupt nicht gemerkt, dass ihre Bewegungen gesteuert wurden? Vielleicht liegt darin der Unterschied zwischen Chinesen und uns, den freien Bürgern der westlichen Demokratien: Die chinesischen „Menschenratten“ sind sich der Tatsache, dass sie kontrolliert werden, zumindest bewusst. Wir hingegen sind die unwissenden Ratten, die herumtigern, ohne uns darüber klar zu sein, wie unsere Bewegungen überwacht werden.

Verfolgt WikiLeaks einen unmöglichen Traum? Definitiv nicht. Denn die Welt hat sich seit den Enthüllungen bereits verändert.

Nicht nur haben wir eine Menge über die illegalen Aktivitäten der USA und anderer Länder erfahren; nicht nur haben die WikiLeaks-Enthüllungen die Geheimdienste in die Defensive gebracht und gesetzgeberische Verfahren zu deren besserer Kontrolle angestoßen. WikiLeaks hat viel mehr erreicht: Millionen gewöhnlicher Menschen haben ein Bewusstsein von der Gesellschaft erlangt, in der sie leben. Etwas, das wir bislang stillschweigend toleriert haben, wird jetzt als problematisch betrachtet.

Das ist der wahre Grund, weshalb man Assange vorwirft, soviel Schaden angerichtet zu haben. Doch das Vorgehen von WikiLeaks hat nichts Gewaltsames. Wir alle kennen die klassische Trickfilm-Szene: Eine Figur erreicht den den Abgrund, rennt aber weiter und ignoriert einfach die Tatsache, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Sie beginnt erst zu fallen, wenn sie nach unten sieht und den Abgrund bemerkt. WikiLeaks erinnert diejenigen, die an der Macht sind, daran, nach unten zu blicken.

Leider beschreibt eine Zeile im Schlusssong von Altmans Film Nashville die Reaktion allzu vieler, die von den Medien einer Gehirnwäsche unterzogen wurden: "You may say I ain't free but it don't worry me – Du sagst, ich sei nicht frei, aber das beunruhigt mich nicht." Die WikiLeaks-Enthüllungen beunruhigen uns. Aber leider mögen viele Menschen das nicht.

Slavoj Žižek ist international director des Birkbeck Institute for the Humanities

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