Wenn die Blätter orange schimmern...

Eventkritik Die "Stadtkarawane" verspricht eine Tour der anderen Art: "Echte Leipziger" laden nach Hause ein und erzählen ihre Stadtgeschichte

Ob es in der Nähe einen Schuhladen gibt, will die Studentin noch wissen. „So weit ist die Gentrifizierung dann doch noch nicht“, sagt Dominik und lacht. Er steht hinterm Tresen des Fahrradwerkstatt-Cafés Dr. Seltsam, letzte Station der „Stadtkarawane“ an diesem Samstag. Seit Mittag ist eine vierköpfige Gruppe in Leipzig unterwegs. Mit Bus, Tram und zu Fuß – auf einer etwas anderen Stadttour.

Die Gruppe hat Stadtteile und Milieus durchquert, in einem Krishna-Tempel getanzt, gegessen und gelernt, warum Mönche Schrebergärten mögen. Am frühen Abend sind die vier Studentinnen erschöpft. „Heute schon durchs Schlüsselloch geschaut?“, lockt die Homepage der Stadtkarawane. Und verspricht eine Expedition zu dem, „was Leipzig tatsächlich ausmacht – den Leipzigern“. Normale Menschen, die im Rahmen einer Tour zu sich nach Hause einladen, um ihre Geschichten und so auch Stadtgeschichte „von unten“ zu erzählen.

Eigentlich, sagt die Studentin Myriell, hätte sie auch gern mit „echten Leipzigern“ abseits von Vereinen und Institutionen gesprochen. Solche suchen die Organisatorinnen Lisa Füchte und Sophie Rathke noch. Sie übersetzen eine kommerzielle Idee aus Rotterdam in eine ehrenamtliche Variante. 10 Euro kostet die Tour pro Teilnehmer. „Wir bekommen bisher nicht so viel Feedback von Gastgebern“, sagt Füchte. „Alte Leipziger“ fehlten wirklich. Inzwischen gibt es etwa 20 Gastgeber mit besonderen Berufen oder Lebenskonzepten.

Touristen kommen nur selten

Wer sich auf die Stadtkarawane einlässt, dem werden seit April Türen geöffnet – zu Künstlern, Werkstätten oder einem Verein, der Schulen in Sierra Leone baut. Für die Tour melden sich Gruppen an, aber auch Einzelne. Oft Studenten, manchmal Ältere. Selten sind es Touristen. Die Leipziger wollen selbst ihre Stadt entdecken. Diesmal kennen sich fast alle aus WGs oder von ehrenamtlicher Arbeit. Sie verteilen sich auf zwei Gruppen. „Mehr als fünf Leute sollten wir den Gastgebern nicht ins Haus schicken“, sagt Lisa. Die zweite Gruppe besucht eine Autowerkstatt und ein Nepalprojekt.
Sophies WG-Zimmer ist der Treffpunkt zum ersten Kennenlernen bei Kaffee, Wasser, Tee. Es gibt Stadt- und Ablaufpläne und, wenn nötig, Fahrkarten. Einen Reiseleiter gibt es nicht. Doch es findet sich immer einer, der auch mal auf die Uhr schaut, damit der nächste Gastgeber nicht unnötig warten muss. Und der als kleines Dankeschön den Gastgebern einen Kinogutschein überreicht. Mehr können sich die Organisatoren nicht leisten. Im Februar läuft die EU-Förderung des Projekts aus.

Gaura Mohan nimmt den Gutschein mit nachsichtigem Lächeln entgegen. Der Hare-Krishna-Mönch will ihn weiterverschenken. „Kannst du dir doch Sommer in Orange anschauen“, scherzt eine Besucherin. So gelöst wie nach anderthalb Stunden ist die Stimmung zunächst nicht. „Bhakti-Yoga-Zentrum“ steht auf dem Stadtplan. Die Bus-Fahrt führt vorbei an MDR-Gelände, Autohäusern, leerstehenden Läden. Sie endet vor einem Haus, das von allen guten Mietern verlassen scheint. Ein Kinderwagen im Treppenhaus trägt Orange, Gaura Mohan sowieso. Der Lärm eines Staubsaugers will zunächst nicht recht zum Duft der Räucherstäbchen passen. Bis klar wird: Hier wird auf dem Fußboden gegessen. Reis, Dhal und Kuchen, die angeboten werden, schmecken auch wirklich gut.

Doch vorher sollen die jungen Frauen, die auf dem Weg gerade noch über Flohmärkte, Probe-Abos und Auslandsaufenthalte geplaudert haben, zu Harmonium, Zimbel und Trommel singen und tanzen: „Hare Krishna Krishna Hare Hare Rama Rama Rama …“ Die Besucher zögern. „Es fällt mir schwer, etwas zu tun, einfach nur um es zu tun“, sagt Johanna. „Hier könnt Ihr eine Erfahrung machen, eine spirituelle“, ermuntert Gaura Mohan. Die anderen schließen die Augen, wiegen sich langsam im Rhythmus und beginnen, nach und nach, leise mitzusingen.

„Fast wie Bollywood, oder?“ Gaura Mohan kennt die Mischung aus Befremden und Neugier, erlebt das oft beim Singen in der Fußgängerzone. Der 20-Jährige ist bei Hippie-Eltern in Peru und im Bayrischen Wald aufgewachsen. Er spricht von der Liebe zum Absoluten, während das Sitzen im Schneidersitz für die Ungeübten immer beschwerlicher wird. Fünf Mönche leben in dem Ashram, das heißt: Sie rollen abends ihre Isomatten in der Bibliothek aus. Ihr Gemüse bauen sie in Schrebergärten an. Hare Krishna sei weder Institution noch Religion, erklärt Gaura Mohan. Es gehe darum, dass man „versteht und erkennt“. Irgendwann an diesem Nachmittag schimmern selbst die gelben Blätter vor dem Fenster orange.

Gentrifizierung beobachten

Dagegen wirkt die Fahrradwerkstatt in Lindenau absolut irdisch. Ob sie das Viertel kennen, will Dominik von den Besuchern wissen. Er dreht die Musik leiser. Der 32-jährige Kölner hat in Dresden Malerei studiert. Jetzt steht er bei Dr. Seltsam zwei Mal die Woche hinterm Tresen. Der kleine Raum fasst neben wenigen Tischen einige halbe und ganze Fahrräder, Kicker, Kunst sowie ein wild gefülltes Bücherregal. „Vor zwei Jahren war hier noch nicht viel los“, erzählt Dominik, jetzt kämen immer neue alternative Läden dazu. Für ihn sei es „einmalig und spannend“, sagt Dominik, ein Stück Gentrifizierung beobachten zu können. Ob Leipzig wirklich die Fahrradklau-Hauptstadt ist, will eine Besucherin wissen. Dominik hält es für möglich, „wir sind ja auch die zweitärmste Stadt Deutschlands“. Ob Dr.-Seltsams-Preise eher höher oder niedriger seien als anderswo, kann er nicht sagen. Überhaupt sei sehr verschieden, was für teuer und was für billig gehalten werde. „Leute kaufen im Bioladen eine Wassermelone für sieben Euro, beschweren sich aber, dass sie zehn Euro für eine Fahrradkette zahlen sollen, die Jahre hält.“

Was an diesem Samstag nach der Tour alle mitnehmen, ist neben Gaura Mohans Räucherstäbchen und Dominiks Tipp, wie man ein Tandem repariert, ein neuer, anderer Blick für die Stadt.

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