Mit dem Mut der Verzweiflung: Ich gehe zur Tafel

Armutsbetroffen Ob andere wissen sollten, dass sie zur Tafel geht, um sich dort Lebensmittel zu holen? Unsere Kolumnistin ist Kundin der Tafel und kämpfte lange mit sich
Es ist nicht schön, auf Tafeln angewiesen zu sein
Es ist nicht schön, auf Tafeln angewiesen zu sein

Foto: Imago/argum

Es hat zwei Jahre gebraucht, bis ich mich getraut habe, zur örtlichen Tafel zu gehen. Ich hatte Angst vor Ablehnung, mich geschämt, weil ich arm bin und mich für weniger wert hielt als meine Mitmenschen. „Die anderen Armutsbetroffenen brauchen das Essen viel mehr als du“, dachte ich, denn ich sorgte mich darüber, dass ich jemandem noch schlechter Gestelltem das Essen wegnehmen würde.

Ich lieh mir Geld oder hungerte, damit ich nicht zur Tafel musste, aber irgendwann gingen meine Strategien nicht mehr auf: Die Leute, von denen ich Geld lieh, wurden selbst zu Armutsbetroffenen und der Verzicht auf Lebensmittel wurde gesundheitsgefährdend, sodass ich mich mit dem Mut der Verzweiflung zur Tafel begab. Mit dabei hatte ich zwei Leinenbeutel. Das war im März 1998.

Die Tafelausgabe fand ironischerweise im Hinterhof unseres Arbeitsamtes statt. Dort konnte ich damals einmal in der Woche Lebensmittel gegen Vorlage meines Leistungsbescheides erhalten. Die Bedürftigkeitsprüfung gab es damals schon.

Ich habe mich seitdem oft gefragt, wer die Tafel ausnutzen sollte, denn schön ist es nicht, auf diese Lebensmittel angewiesen zu sein. Ich bin immer wieder mit wenigen Unterbrechungen Kundin der Tafel gewesen: Schleswig, Kiel und jetzt Elmshorn. Seit 1998 hat sich vieles geändert. Die erste Euphorie über die Tafelidee ist verblasst. Der Staat sieht sie als Selbstverständlichkeit an und Menschen werden von den Ämtern sogar auf die Tafeln verwiesen.

Als ich vor sieben Jahren nach Elmshorn gezogen bin, gab es eine Tafelausgabe, zu der 50 bis 60 Menschen pro Tag kamen. Mittlerweile sind es gut 200 Menschen.

Lebensmittel, nach Stationen aufgeteilt

Heute zeige ich meinen Leistungsbescheid vor und bekomme für die Zeitdauer des Leistungsbezuges eine Tafelkarte. Auf ihr steht die Personenanzahl des Haushaltes. Je nach Personenzahl darf man auch zweimal oder dreimal in der Woche kommen. Um 10 Uhr werden nach dem Losverfahren Zettel mit Nummern ausgegeben, um die Reihenfolge zu regeln. Nach den Nummern stellen sich die Leute in der Reihe auf und werden nach und nach in die Ausgaberäume geschickt.

Dort zeigt man seine Tafelkarte vor, gibt seine Nummer ab, bezahlt für die „Waren“ einen Euro und darf sich dann Lebensmittel aussuchen, die nach Stationen aufgeteilt sind: Brot, Brötchen, Kuchen, Süßes, Molkereiprodukte und andere Kühlwaren, Gemüse und Obst, danach ein Tisch für Besonderes wie Müsli, Getränke oder Großspenden z.B. in Form von Eiern oder Kartoffeln.

Seit dem grauenvollen Krieg gegen die Ukrainer sind wir so viele Menschen, dass die Ausgabe anders arbeiteten muss: Jede Person wird an einen Tisch mit einer fertig gepackten Lebensmittelkiste gebracht, aus der sie sich alles herausnehmen darf, was sie brauchen kann. Somit hat jeder eine Kiste und alle bekommen gleich viel.

Da es nach der Lebensmittelausgabe ein warmes Mittagessen gibt, ist es wichtig, dass bis 12 Uhr alle Menschen, die Waren holen, versorgt sind. Danach brauchen die, die wegen des Mittagessens da sind, die Räume. Ich hole nur Ware, da die Zeiten fürs Mittagessen direkt auf den Schulschluss meiner Tochter fallen und ich sie von der Schule abholen muss.

Opfer der Vorurteile

Ich spüre immer noch die innere Zerrissenheit darüber, ob andere wissen sollten, dass ich zur Tafel gehe. Als meine Tochter in den Kindergarten kam, gehörte der Gang zur Tafel zu ihrem Lebensalltag. Wie würden die Erzieherinnen reagieren, wenn sie offen darüber sprach? Ich hatte Angst, stigmatisiert zu werden. Opfer der ganzen Vorurteile, die sich um arme Menschen ranken. Der Tafelbesuch ist für viele Besucher ein Tabuthema.

Das Eingestehen darüber, dass man den eigenen Lebensunterhalt ohne Hilfe von Außen nicht meistern kann, nagt am Selbstbewusstsein und an der Freiheit selbst zu bestimmen. Es ist der Mangel, der uns Armutsbetroffene definiert und gegen den wir ständig kämpfen.

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer monatlichen Kolumne berichtet die 46-Jährige über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Janina Lütt

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden