Liebe FDP, ihr wollt Eltern zur Arbeit anreizen? Ich habe da eine geniale Idee!

#IchbinArmutsbetroffen Die FDP blockiert die Kindergrundsicherung und sagt, sie wolle „Erwerbsanreize" schaffen. Unsere Autorin schlägt vor: Wenn die Kinder betreut werden und Arbeit anständig bezahlt wird, muss man niemand mehr mit Anreizen quälen
Ausgabe 41/2023
So idyllisch stellt sich Christian Lindner die Kinderbetreuung von Alleinerziehenden vor
So idyllisch stellt sich Christian Lindner die Kinderbetreuung von Alleinerziehenden vor

Foto: Nina Janeckova/picture alliance/ Westendol

Liebe FDP, wir müssen reden. So wie es aussieht, ist der „Sozialklimbim“ immer noch nicht vorbei, wie ihr das selbst nennt, denn wieder blockiert ihr die Kindergrundsicherung. Der Parlamentarische Geschäftsführer eurer Fraktion, Johannes Vogel, will mehr „Arbeitsanreize“ schaffen, weil es ihm darum gehe, „dass sich Arbeit noch mehr lohnt“, wie er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte. Ich habe ja schon lange verstanden, dass ihr es nicht so mit sozialer Politik für die Menschen habt, aber ich fürchte inzwischen, einige von euch leiden an einer sehr extremen Form von neoliberaler Weltsicht.

Euer Kind ist die Wirtschaft, mein Kind ist aus Fleisch und Blut. Oder damit ihr es versteht: Mein Kind ist auf dem Weg, ein zukünftiger Steuerzahler zu werden, was ihr gerade aber sabotiert. Und was wird das Kind als Erwachsene darüber denken, dass sich die Regierenden lieber für die Wirtschaft und die Autolobby einsetzten, als für ein menschenwürdiges chancengleiches Leben für Armutsbetroffene?

Ja, diese ewig nervenden Armutsbetroffenen, die immer mehr werden und von euch nicht nur ignoriert, sondern verachtet werden, und wie es scheint, besonders deren Kinder. Ihr wollt also mehr Erwerbsanreize schaffen, damit ihr der Kindergrundsicherung zustimmt? Ich nehme mal an, ihr meint damit nicht die Kinder, denn dass ihr Kinderarbeit fordert, so weit scheint es noch nicht zu sein. Also meint ihr damit die armutsbetroffenen Eltern, für die die Kinder nun haften sollen.

1. Armutsbetroffene arbeiten längst

Gut, dann reden wir mal über Arbeitsanreize. Von den 14,41 Millionen Armutsbetroffenen arbeiteten 2021 ganze 26,8 Prozent, oder andersherum: Neun Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland sind von Armut betroffen. Sie werden so schlecht bezahlt, dass sie trotz ihrer Arbeit Bürgergeld beantragen müssen. Wir nennen sie „working poor, oder „Aufstocker“. Was wollt ihr bei denen bitte anreizen? Vielleicht sollten Sie sich darüber mal genauestens informieren, liebe Regierende, insbesondere die FDP.

Wir haben seit der Agenda 2010 einen wunderbar florierenden Niedriglohnsektor, jeder fünfte Job wird hierzulande mit Niedriglohn bezahlt. Noch mehr schlecht bezahlte Jobs gibt es europaweit nur in Lettland, Litauen, Estland, Polen und Bulgarien. Aber klar, noch mehr mies bezahlte Arbeit geht immer, lieber weiter anreizen, um noch mehr Menschen in den Niedriglohnsektor zu zwingen, vielleicht kann man ja noch ein paar mehr von den 17,3 Millionen Armutsbetroffenen ausquetschen. Zumindest die Eltern unter ihnen.

2. Armutsbetroffene Eltern arbeiten eh: Sie betreuen ihre Kinder

Schauen wir uns diese Eltern mal an. Am stärksten armutsbetroffen sind Alleinerziehende, und ich kann Ihnen sagen, gereizt sind die schon genug. Haben Sie mal versucht, für Kinder unter 6 Jahren einen Betreuungsplatz zu bekommen? Den brauchen Alleinerziehende schließlich, um arbeiten gehen zu können, und bei mehreren Kindern wird es noch schwieriger. In manchen Bundesländern gehen Eltern halbtags arbeiten und bezahlen dann den größten Teil ihres Gehaltes für die Betreuungskosten.

Meine halbtags arbeitende Freundin mit Kind war davon so oft frustriert, dass sie überlegte, einfach nicht zu arbeiten. Wenn Sie Arbeitsanreize wollen, müssen die Betreuungsmöglichkeiten gegeben sein, und der Personalschlüssel in den Kitas und Schulen muss gut sein. Wie Sie sicher wissen – oder auch nicht? – sieht die Realität anders aus: Es fehlt an Plätzen und an Personal. Es ist ganz leicht, Alleinerziehende zur Arbeit anzureizen: Betreuen Sie ihre Kinder ordentlich! Sonst geht die Gereiztheit ganz woanders hin.

3. Armutsbetroffene arbeiten in der Pflege: Sie sind pflegende Angehörige

Kommen wir zu den ungesehenen anderen Eltern: Nicht lohnarbeitende Mütter und Väter, die aus ganz verschiedenen Gründen Bürgergeld beziehen. Vorsicht, ich schrieb lohnarbeitende, denn viele dieser Eltern arbeiten durchaus! Zu ihnen gehören nicht wenige pflegende Angehörige, die mit der Arbeit zuhause bei ihren Eltern, Geschwistern oder Kindern nicht lohnarbeiten können, ich denke dabei auch an die Long Covid Kids und die vielen behinderten Kinder, die gerne von der Politik ignoriert werden. Was ist mit denen?

4. Wer nicht arbeitet, hat dafür häufig einen Grund: Psychische Krankheit

Liebe FDP, Ihnen ist bewusst, dass gut 40 Prozent der Bürgergeldempfänger unter psychischen Problemen leiden? Nein? Dann kann ich Sie nur dazu anreizen, sich eingehender mit dem Thema zu beschäftigen. Menschen, die im temporären Bürgergeldbezug sind, brauchen zu allererst Therapieplätze und bei Bedarf auch sozialpädagogische Unterstützung, dann könnten sie eventuell auch wieder Arbeiten – und, wenn das nicht klappen sollte, in die Erwerbsminderungsrente gehen.

Sie wissen, dass es Eltern wie mich gibt, die erwerbsunfähig sind und Kinder haben? Wie ist es mit diesen Menschen, die nicht arbeiten können? Haben Sie daran schon mal gedacht? Wollen Sie mich wirklich weiter anreizen? Danke, für mich bietet schon die Bewältigung eines Alltags mit Armutsbetroffenheit genug Reize.

5. Geflüchtete in Arbeit bringen? Gute Idee! Dann kürzt ihnen bitte nicht die Unterstützung

Dass die Integration von Geflüchteten verbessert werden muss, verstehe ich vollkommen, und es ist gut, wenn sich unsere Regierenden darum kümmern wollen. Ja, es macht Sinn, Geflüchteten möglichst früh das Arbeiten zu ermöglichen, und es gibt genug Menschen, die das wollen. Aber wie soll das gehen, wenn die FDP gleichzeitig die Beratung von ausländischen Studierenden an Universitäten streicht? Und die Sozialberatungsstellen weniger Geld erhalten? Wie sollen die Geflüchteten ohne Beratung ihr Können als Facharbeitskräfte unterbringen?

6. Super Idee für einen Arbeitsanreiz: Gute Löhne!

Liebe FDP, zum Schluss habe ich eine bahnbrechende Idee, wie sich Arbeit „noch mehr lohnen“ kann. Wie wäre es, schwierige Arbeiten besser zu entlohnen? In der Pflege etwa, oder an den Schulen und Kitas? Das wäre mal ein mega Arbeitsanreiz, habt ihr darüber schon mal nachgedacht?

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Janina Lütt

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