Neoliberalismus: Spartipps für die Armen, Bewunderung für die Reichen

Armutsbetroffen Die Regeln zu lasch, die Leistungen zu großzügig, und muss es ein Buch für 15 Euro sein? Geht es ums Geld, neigen sich Kritik, ungebetene Ratschläge und neidische Blicke gern nach unten. Falsche Richtung, findet unsere Autorin
Markus Söder gibt auch gern Spartipps
Markus Söder gibt auch gern Spartipps

Foto: Sven Simon/Imago Images

Ich bin armutsbetroffen und twittere über mein Leben in Armut unter dem Hashtag #IchbinArmutsbetroffen. Dafür werde ich auf verschiedenste Weise angefeindet. Ich solle mich schämen, als Bürgergeldbezieherin mehr Geld zu verlangen, weil der Regelsatz zu niedrig bemessen ist. Niemand schreibt einem Spitzenmanager, der ein paar Tausend Euro mehr verdient in der Krise, dass er sich schämen soll, so viel Gewinn zu machen. Der gesellschaftliche Blick geht nach unten, nicht nach oben. Maskendeals, Cum-Ex, Lobbyismus – irgendwie, so wirkt es, kommen Menschen mit viel Geld immer glimpflich davon. Geflüchtete, Niedriglöhner, die „arbeitende Mitte“, Bürgergeldempfänger, sie alle werden politisch gegeneinander instrumentalisiert.

Die menschenverachtende „Bürgergelddebatte“ vor allem von Seiten der Union hat gezeigt, dass im Diskurs ein klassistisches Weltbild vorherrscht. Und das wird gut befeuert, denn wo wäre Deutschland ohne seine Armen, die immer dann wichtig sind, wenn es darum geht, PR-Fotos für Politiker zu machen? Söder bei der Tafel, Scholz bei der Tafel. Wieso ist Herr Linder da noch nicht gewesen? Oh, ich vergaß: falsches Klientel! Kein verwertbares Humankapital.

Mit Armutsbetroffenen kann man kein Geld machen. Gerade in einer Gesellschaft, die auf Leistung aus ist, ist Erwerbslosigkeit oder Armut das absolute Versagen. Anstatt mit Verständnis, Solidarität und Mitgefühl zu reagieren, bekommen Armutsbetroffene Vorwürfe. Es kann ja nicht sein, dass in einem so reichen Land Leute arm sind. Das passt nicht in das Weltbild der Mehrverdiener, es muss selbstverschuldet sein. Anstatt sich mit den Ursachen und Hintergründen der politisch gewollten Armut zu beschäftigen, werden wir beschimpft, verschwiegen oder ignoriert. Ich habe ein wunderbares Interview des Armutsforschers Butterwege gefunden, der es hervorragend in Worte fasst:

„Leider ist in Deutschland der Sozialneid nach unten sehr ausgeprägt. Angehörige der unteren Mittelschicht glauben oft, die Armen würden vom Staat gepampert. Dabei wäre es gerade für die Mittelschicht logischer, nach oben zu schauen“, sagt Butterwege. Auch werde Leistung mit ökonomischem Erfolg gleichgesetzt. Oder „verwechselt“, wie er sagt. Und auch das ist wichtig: „Wer reich ist, ist natürlich politisch einflussreich und tut alles dafür, um seine Privilegien auf gesetzlichem Weg zu sichern.“

Ich kann und werde weiter aufklären über Armut in Deutschland. Das Wissen und die Hintergründe von Armut sind komplex, aber es lohnt sich, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Je mehr Fakten und Zusammenhänge bekannt sind, desto eher hoffe ich, dass ich nicht mehr für einen Buchkauf für 15 Euro oder eine FP2 Maske mit Motiv für einen Euro als Armutsbetroffene kritisiert werde.

Ich habe mir ein Buch mit dem Titel: „Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen“ gekauft. Ich habe in einem Tweet auf die lächerliche Summe von 1,81 Euro hingewiesen, die mir pro Monat für Bildung im Bürgergeldsatz zur Verfügung steht. Deshalb musste ich den restlichen Betrag von meinem Satz für Bekleidung und Schuhe nehmen, um das Buch zu bezahlen. Sie haben richtig gelesen, die Summe, die mir als Bürgergeldbezieherin für Bildung im Monat zusteht, sind 1,81 Euro! Für ein Buch von 15 Euro müsste ich über ein Jahr sparen!

Zumindest kann ich mir jeden Monat einen Bleistift kaufen. Aber Bücher? Scheinen nicht vorgesehen. Es gibt mir das Gefühl, wir Armustbetroffenen sollen uns nicht bilden. Dabei ist Bildung ein möglicher Weg aus der Armut, so wird es zumindest behauptet. Ein Schelm, wer Böses denkt. Und ja, dieses Buch polarisierte meine Follower nicht wegen des Themas, sondern weil ich mir ein „ja vollkommen unnötiges Buch“ geleistet habe, mit Bürgergeld, als armer Mensch! Andere wissen es immer besser, was wir Arme angeblich dürfen und nicht dürfen. Es ist für uns schwer auszuhalten, diese „Besserwisserei“. Daher betone ich:

Es ist meine Sache, wofür ich mein Geld ausgebe. Ich brauche keine ungewollten Spartipps, übergriffige Lebenscoaches oder Klassisten. Ich brauche Verständnis, Solidarität und Akzeptanz.

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer monatlichen Kolumne berichtet die 46-Jährige über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

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Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Janina Lütt

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