Was passiert, wenn man sich als armutsbetroffener Mensch aus der Deckung traut

Armutsbetroffen Unsere Autorin erfährt viel Zuspruch, seit sie sich auf Twitter als Armutsbetroffene geoutet hat. Aber auch Negatives. Sie wünscht sich nicht nur in den sozialen Medien ein Miteinander, das auf Respekt und Solidarität basiert
Demonstration der #ichbinArmutsbetroffen-Bewegung in Berlin im Oktober 2022
Demonstration der #ichbinArmutsbetroffen-Bewegung in Berlin im Oktober 2022

Imago

Ich gehöre mit den anderen 13,8 Millionen armutsbetroffenen Menschen in Deutschland zu einer Minderheit. Seitdem der Hashtag #IchbinArmutsbetroffen Mitte Mai 2022 auftauchte, wurde dieser zu einer sozialen Bewegung von unten. Von Anfang an bin ich dabei und verfolge die Entwicklung und die Tweets dazu. Wie immer, wenn etwas Neues auftaucht, hat auch #IchbinArmutsbetroffen Unterstützer und Gegner.

Ja, wir Armen haben es mit Menschen zu tun, die uns unsere Armut, unsere Glaubwürdigkeit und unsere Würde absprechen. Auf Twitter gibt es Zusammenschlüsse von sogenannten „Hatern“, deren einziger Sinn und Zweck daraus besteht, gegen die Bewegung #Armutsbetroffen zu hetzen und sie zu diffamieren. Erschreckend viele der sogenannten Trolle sind aus dem rechten Spektrum.

Stellen Sie sich vor, Sie trauen sich als armutsbetroffener Mensch in die Öffentlichkeit, Sie schreiben von Ihren Problemen, Ihrem Alltag und bitten vielleicht um Hilfe. Als Nächstes findet irgendjemand Ihre Adresse heraus, kauft auf Ihre Kosten Pizza oder eine Waschmaschine. Stellen Sie sich vor, dass sich bei Ihnen plötzlich eine Behörde meldet, weil Sie angeblich Sozialbetrug betreiben, Ihre Tiere misshandeln oder Ihre Wohnung als gesundheitsgefährdend gemeldet wurde.

Macht das der Kapitalismus aus uns?

Und das alles, weil Sie sich unter dem Hashtag #IchbinArmustbetroffen zu Ihrer Lebenssituation geäußert haben. Ich frage mich, woher all der Hass kommt. Ja, wir haben in Deutschland ein Problem mit Klassismus, aber diese extremen Diffamierungs- und Hetzkampagnen haben ein Maß angenommen, das mir Angst macht. Wie gut es einer Gesellschaft geht, zeigt sich darin, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht.

Gerade wir finanziell Schwächeren der Gesellschaft bekommen die politische Unzufriedenheit und die Unsicherheit unserer Mitbürger zu spüren. Und doch frage ich mich, wann sind wir dahin gekommen, so hasserfüllt gegen andere zu sein? Wie viele Krisen haben uns negativ beeinflusst, wie viel wirtschaftliche Desaster, wie viel Umweltzerstörung, wie viel Krieg? Wann wurde Freundlichkeit zugunsten von Neid aufgegeben? Ist es das, was der Kapitalismus aus uns macht? Egoistische, machtgeile Menschen?

Bekanntlich verdirbt Geld den Charakter. Was haben wir aufgrund von Profiten geopfert? Unsere Umwelt, unseren Anstand, unsere Moral? Ist es das profitorientierte Wirtschaften, das immer mehr Arbeitsplätze abbaut, das uns so unter Stress setzt, dass es keinen Raum mehr für ein entspanntes Miteinander gibt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass jeder von Ihnen da draußen dazu beitragen kann, dass wir in einer menschenwürdigen, sozial gerechten Gesellschaft leben können.

Es fängt damit an, den Menschen mit Respekt zu behandeln, auf Augenhöhe. Es fängt damit an, die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen und die eigenen Vorurteile infrage zu stellen. Die Zauberworte sind Solidarität, Empathie und Verständnis. Es wird Zeit, dass wir unsere positiven Eigenschaften pflegen und zeigen, dass es auch ohne Hass und Hetze funktionieren kann, das Zusammenleben.

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer monatlichen Kolumne berichtet die 46-Jährige über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

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Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

Janina Lütt

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