Am rechten Rand Europas

Nation Building Die Ukraine ist auf der Suche nach ihrer Identität. Der Krieg im Osten ist Teil der Antwort. Auch mit rechtsextremen Tönen. Unter den Augen der Zivilgesellschaft

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Der Krieg ist Alltag in der Ukraine (hier ein Bild aus dem Februar 2015). Er ist dabei Teil dessen, was die Wissenschaft "Nation Building" bezeichnen würde
Der Krieg ist Alltag in der Ukraine (hier ein Bild aus dem Februar 2015). Er ist dabei Teil dessen, was die Wissenschaft "Nation Building" bezeichnen würde

Foto: Anatolii Stepanov/AFP/Getty Images

Seit über drei Jahren ist Krieg im Osten der Ukraine. Kiew ist nur einen Tag Zugreise von Berlin entfernt. Dennoch fühlt sich die Ukraine sehr weit weg an. Und der Krieg, der dort im Februar 2014 ausbrach, ist noch weiter aus unserem Bewusstsein geraten.

Dabei geht das Sterben weiter. „Es gibt zu viele, die diesen Krieg wollen. Deswegen findet er statt“, sagt Oksana Matijtschuk, Leiterin des Czernowitzer Kulturzentrums „Gedankendach“.

Jede Woche sterben in diesem Krieg fünf bis zehn ukrainische Soldaten. Hinzu kommen zivile Opfer. Weiter meint Sergej Sumlenny, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew: „Es gibt keinen Tag, an dem nicht intensiv geschossen wird“.

Der Krieg ist Alltag in der Ukraine. Und der Krieg ist Teil dessen, was die Wissenschaft als Nationenbildung (Nation Building) bezeichnen würde. Im Krieg wird die Ukraine ukrainisch. Und im Euromaidan. Und in der Krim-Annexion. Die Ukraine ist bezogen auf die Fläche der größte Staat des europäischen Kontinents. Von Nord nach Süd dehnt sie sich 875 Kilometer aus, von Ost nach West 1.300 Kilometer (zwei Zeitzonen). Und der Krieg in Teilen der beiden östlichen Bezirke Donezk und Luhansk bringt dieses riesige Land zusammen.

Als wir am Morgen in Lemberg ganz im Westen des Landes aufbrechen, sind die Straßen gesäumt mit der Landesflagge. Daran hängen kleine schwarze Bändchen. Ein Sohn (oder eine Tochter?) der Stadt hat in diesem Krieg sein (ihr) Leben verloren. Das ansonsten geschäftige, friedliche und touristische Leben in der Stadt bekommt für einen Moment einen Riss.

Die Politologin Lesya Uhryn, Professorin an der Lemberger Universität, geht davon aus, dass Russland seine militärischen Interventionen wohl nicht einstellen wird. Sie wirkt resigniert als sie versucht, die zwei Optionen der Ukraine in diesem Krieg zu schildern: die Lösung auf diplomatischem Weg und die Lösung auf militärischem. Man habe die diplomatische angestrebt, da die Ukraine für einen Krieg nicht gerüstet war. Ein Gutes an den Minsker Verträgen sei, dass man nun etwas Zeit gewinne zur Aufstockung und Reformierung des Militärs.

Und tatsächlich hat sich seit 2014 Einiges im ukrainischen Heer getan. Die meisten Freiwilligen seien mittlerweile offiziell als Soldaten eingeschrieben und würden bezahlt, meint etwa Irina Borenko, die Jugendprojekte in den Bezirken Luhansk und Donezk durchführt.
Auch wird die Ausrüstung besser. Vor etwa drei Jahren war es unter Anderem im südukrainischen Czernowitz zu Protesten von Frauen gekommen, deren Ehemänner und Söhne ohne Ausrüstung in den Krieg geschickt werden sollten. Das Militär hatte nach der Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 2013 nur noch auf Sparflamme existiert. Die UkrainerInnen sammelten Geld für schusssichere Westen für die Einberufenen. An fünf Czernowitzer Schulen wurde Geld für Nachtsichtgeräte gesammelt. Noch heute prägen Schablonen-Graffitis, die die Einberufung ohne Ausrüstung anprangern („ohne Schlafsack“, „ohne Stiefel“, „ohne Jacke“ usw.), das Stadtbild.

Die ukrainische Gesellschaft ist mittlerweile optisch stark vom Krieg geprägt. Und das macht sie zur ukrainischen Gesellschaft. Soldaten in Uniform trifft man in Lemberg, Uschgorod, Iwano Frankiwsk, Czernowitz oder Kiew. Militärische Symbole, nationalistische Propaganda und die Nationalfarben sind in den Städten der Ukraine als offizielle Werbeplakate genauso zu finden wie als inoffizielle Graffiti. Keiner scheint sich daran zu stören. Wer stehen bleibt, um ein Foto zu machen, wird verwundert angeschaut.

Neben dem Militär prägt paramilitärische, nationaliastische und teils faschistische Propaganda das Bild vieler ukrainischer Städte. Dennoch glauben viele – auch MitarbeiterInnen der Deutschen Botschaft in Kiew – die Ukraine habe kein oder kaum ein Problem mit rechten und rechtsextremistischen Kräften. Zumal die rechten Parteien – die einzigen mit politischer Programmatik (!) – nach der letzten Wahl nicht mehr ins Parlament eingezogen sind.

Der Schein trügt. Denn das Spektrum der Ideologien ist vielfältig. Dies ist auch der vielfältigen Geschichte des Landes geschuldet. Die meisten Ideologien scheinen sich aber unter dem Motto „Slawa Ukrainii!“ („Ehre der Ukraine!“) bündeln zu lassen. Ein Motto des Euromaidan, der eben in seinem Verlauf viel mehr ukrainisch-nationalistische als europäische Züge annahm. Graffiti selbst in entlegenen Dörfern: „Slawa Natii!“ („Ehre der Nation!“). Die ukrainische Reiseleitung wünscht, wir hätten es nicht bemerkt.

Der Umgang der liberaleren, westlich orientierten UkrainerInnen mit dieser Situation ist ebenso problematisch wie die Phänomene am rechten Rand selbst. In Iwano Frankiwsk hängt ein Werbeplakat für das paramilitärische Freiwilligenbataillon „Asow“ im Stadtzentrum. In Lemberg und anderswo ist das Asow-Symbol als Graffiti an Häuserwänden zu sehen: ein schräg liegendes, längs durchgestrichenes N, die sogenannte Wolfsangel, die auch von der SS-Verfügungsdivision genutzt worden war. Diese Miliz kämpft im Osten gegen die sogenannten „prorussischen Separatisten“ und ist der rechtsextremen Szene der Ukraine zugehörig. Die junge Ukrainerin, die uns begleitet, erklärt, es handele sich um eine Einheit der ukrainischen Streitkräfte.

Unweit des Goldenen Tores im Zentrum Kiews sitzen wir bei einem Kaffee zusammen. An den Balkonen des gegenüberliegenden Hauses sind zwei Fahnen angebracht: eine in den ukrainischen Nationalfarben gelb und blau. Und eine andere in rot und schwarz. Das Symbol des sogenannten „Rechten Sektors“, einer paramilitärischen, rechten Partei. Rot steht für Blut und schwarz für den Boden. Sie prägten die Maidan-Proteste maßgeblich mit.
Wenn Touristen in der ehemaligen Habsburger-Stadt Czernowitz das erste Steinhaus der Stadt – erbaut von den Österreichern – bestaunen, stehen sie nur 20 Meter vom dortigen Regionalsitz des Rechten Sektors entfernt. Die Rechtsextremen mögen aus dem Parlament geflogen sein, aber sie sind mitten in den Städten.

Die „Ukrainische Nationalversammlung – Ukrainische Nationale Selbstverteidigug“ (UNA-UNSO), die sich während des Euromaidans dem Rechten Sektor angeschlossen hatte, ist im Stadtbild von Kiew ebenfalls präsent. Nur ein paar Meter entfernt von den beflaggten Balkonen sitzen Angehörige dieses paramilitärischen und ebenfalls rechtsextremen, nationalistischen Verbandes beim Vormittagsbier. Manche in Zivil, manche in Uniform. Auf dem linken Oberarm der runde, rote Aufnäher. Darauf ein schwarzes Kruckenkreuz und die weißen Buchstaben Y, H, C, O; in der Mitte der Trysop aus dem ukrainischen Nationalwappen.
Ein Freiwilligenbataillon der UNSO kämpft im Osten an der Seite der ukrainischen Armee.

Die Ukraine war bisher ein stark zentralisiertes Land. Vielleicht ist genau das das Problem. Seit etwa zwei Jahren betreibe die Regierung eine Dezentralisierungspolitik, sagt Sergej Sumlenny von der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew. Das helfe, das politische Leben an der Basis zu fördern.

Das Land zwischen Europa und Russland ist an einem Scheideweg. Die Frage nach der Identität ist die eigentliche Frage der Ukraine. Nicht die des Krieges. Dieser ist die Folie, vor der die Ukraine ukrainisch zu werden versucht. Und nicht europäisch.

Weitere Infos zum Rechtsextremismus in der Ukraine bietet eine nach Veröffentlichung dieses Beitrags erschienene Zusammenstellung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Abrufbar hier: https://kurzlink.de/rosalux/Ukraine

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