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Arbeitsmigration Zwischen Sowjetnostalgie und Turbokapitalismus: Zur Lage von ArbeitsmigrantInnen in der Russischen Föderation. Eindrücke aus Moskau und Kasan

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Moskau: Glitzerskyline und ewige Baustelle. Russland hat sich in den letzten 25 Jahren zu einem kapitalistischen Land entwickelt
Moskau: Glitzerskyline und ewige Baustelle. Russland hat sich in den letzten 25 Jahren zu einem kapitalistischen Land entwickelt

Foto: VASILY MAXIMOV/AFP/Getty Images

„Zu welchem Lenin-Denkmal wollen Sie denn?“, fragt der Taxifahrer. „Es gibt hier viele davon“. Kasan, die Hauptstadt der kleinen russischen Republik Tatarstan, bildet da keine Ausnahme. Überall im Land ist er gegenwärtig: Wladimir Iljitsch Lenin. In Russland ist man stolz auf den Revolutionsführer von 1917. Denkmäler finden sich selbst in der Provinz. In Moskauer Metrostationen sowieso.
Das ist kein Zufall. Die zahllosen Stein-Lenine und der echte, einbalsamierte am Roten Platz in Moskau deuten es an: Die Sowjetunion lebt bis heute fort. Das Vergangene ist in Russland gegenwärtig. Das, was wir „Russland“ nennen, ist eine Föderation aus zahlreichen Republiken und (teil-)autonomen Gebieten. Diese Russische Föderation lebt aus dem Geist der ehemaligen Sowjetunion. Und sie ist in Bewegung.

Rund eine Million ArbeitsmigrantInnen leben in der russischen Hauptstadt. Sie kommen zum großen Teil aus den südlichen GUS-Staaten wie Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan. Etwa 50.000 von ihnen haben sich in der Gewerkschaft der arbeitenden MigrantInnen (russ. Профсоюз Трудящихся Мигрантов) organisiert. Die gemeinsame Vergangenheit, das Russische als gemeinsame (Fremd-)Sprache, aber auch kulturelle und soziale Ähnlichkeiten erleichtern die Zusammenarbeit. Bei politisch heiklen Fragen wie etwa der zur Krim-Krise können die Meinungen aber auch sehr auseinandergehen.

Svetlana Boboc stammt aus der Republik Moldau, dem nach Armenien kleinsten GUS-Staat und einem Fast-EU-Beitritts-Kandidaten (wenn da nicht der Transnistrienkonflikt wäre). Die Mitte 60-Jährige arbeitet schon seit etwa 20 Jahren in Moskau. In ihrer Heimatstadt Chișinău war sie Hochschullehrerin für Geschichte. Hier in der russischen Metropole ist sie im Innenausbau tätig. So recht glauben mag man es nicht, aber sie zeigt sich damit zufrieden. Sie verdiene gut. Noch ein paar Jahre wolle sie hier arbeiten, dann zurück in die Republik Moldau gehen. Ihre Kinder leben in Rumänien, wohin ihr Vater in den Kriegswirren 1944 aus Kasan gekommen war. Ihre Geschichte ist eine sowjetische.

Migration ist in der Russischen Föderation ein Thema. Anders als in der EU spielt Fluchtmigration jedoch kaum eine Rolle. Russland ist kein Einwanderungsland, wohin Menschen dauerhaft ziehen (können), aber die Hoffnung auf ein besseres Leben für viele temporäre ArbeitsmigrantInnen, vergleichbar vielleicht der GastarbeiterInnen-Phase in den 50er bis 70er Jahren in der BRD.

VertreterInnen der Deutschen Karl-Fuchs-Gemeinschaft und der Versammlung der Völker Tatarstan berichten in der 800 km östlich von Moskau liegenden Provinzhauptstadt Kasan, dass Zuwanderung mit Kontingenten geregelt werde. Die örtlichen Firmen legten in regelmäßigen Abständen fest, wieviele qualifizierte Arbeitskräfte sie benötigten. Entsprechend geeigneten MigrantInnen werde die Einreise gewährt. 2015 seien auf diese Weise etwa 200.000 MigrantInnen in die kleine Tataren-Republik migriert. „Это не хаос – Das ist kein Chaos“, sagt Viktor Dietz, der Vorsitzende der Deutschen Karl-Fuchs-Gemeinschaft. Probleme würden durch die enge Kooperation von Staat, Sicherheitsorganen (auch in den jeweiligen Herkunftsländern der MigrantInnen) und der Versammlung der Völker gelöst. In dieser Versammlung sind in der Republik Tatarstan immerhin rund 20 Nationalitäten, die sich jeweil als eingetragene Vereine organisiert haben, vertreten. Ihre gemeinsame Sprache ist Russisch, ihre Vergangenheit sowjetisch.

Insgesamt gibt es Schätzungen der Gewerkschaft arbeitender MigrantInnen zufolge etwa 10 Millionen ArbeitsmigrantInnen in Russland. Wer zuwandert, muss sich bei einer speziellen Behörde registrieren und eine Gebühr für die Krankenversicherung entrichten. Nur so darf man überhaupt arbeiten. Besondere Rechte hätten sie nicht, sagen die GewerkschaftsvertreterInnen. Es ist wohl davon auszugehen, dass ArbeitsmigrantInnen genauso wenige (soziale) Rechte haben wie inländische Kräfte.

Anderes ist von den GesprächspartnerInnen in Kasan zu hören: ein Migrationsgesetz regele alles, die Arbeitgeber würden die Verantwortung für die angeworbenen Arbeitskräfte übernehmen, sich um Wohnraum kümmern und die Daseinsfürsorge gewährleisten.

Russland ist nicht gleich Russland. Die verschiedenen Positionen bei der Frage nach der sozialen Lage von MigrantInnen in Russland sind unter anderem in den regionalen Disparitäten der riesigen Föderation begründet. Kasan, eine relativ reiche Stadt, die von Erdölförderung und Industrie lebt und in der die Arbeitslosigkeit unter einem Prozent liege, bietet andere Bedingungen als etwa Moskau, die Metropole, die sowieso ganz anders ist als die übrigen 17.073.000 km² der Russsischen Föderation.

Wenn man in Moskau unterwegs ist, mag man kaum glauben, dass Russland in einer Krise steckt. Die Stadt ist eine einzige Baustelle. Metroliniennetzpläne sind nach wenigen Monaten veraltet, weil wieder irgendwo eine weitere Station gebaut wurde. Bis an den Flughafen Sheremetjevo wälzen sich Wohnwolkenkratzer, alle kürzlich gebaut. Wie geht das?

Das Zentrum der ehemaligen Sowjetunion, Russland, hat sich in den letzten 25 Jahren zu einem kapitalistischen Land entwickelt. Ein Mitarbeiter des Moskauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung spricht von einem „wilden Kapitalismus“ mit einer bunten, künstlich geschaffenen Oberschicht. Der Sozialstaat existiere formal, sei aber durch die Wirtschaftskrisen der Vergangenheit immer mehr eingefroren worden. Gewerkschaften seien schwach. Die der arbeitenden MigrantInnen erklärt sich ihre marginale Rolle damit, dass Gewerkschaften in der sowjetischen Zeit mit der Regierung zusammengingen und somit ihre Existenzberechtigung aufgegeben hatten. Im neuen russischen Kapitalismus – die Systemfrage ist mittlerweile eher eine Frage der verschiedenen Kapitalismen als der verschiedenen politischen Systeme – müssen sie sich ihre Position erst wieder erkämpfen.

Die sowjetische Vergangenheit der Russischen Föderation lebt im Phänomen der Arbeitsmigration fort. Das Russsische als Lingua franca ist eine der Eintrittskarten von südlichen ArbeitsmigrantInnen in die Arbeitswelt der nördlichen Metropole(n). Die Nachfahren von Lenins ArbeiterInnen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts vereinigt hatten, um in „allen Ländern“ für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, sind heute die Sklaven im russischen Kapitalismus. Er ist zwar jünger als der westliche Kapitalismus, funktioniert aber genau so: durch Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung. Und mit Sowjetsymbolik.

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