Das Traditionelle ins Heute holen

Portrait Im Schatten der Corona-Krise wächst in Rumänien Neues: In Siebenbürgen belebt die Bukaresterin Bocaneala alte Handwerke neu. Mit Nadel, Faden und viel weiblicher Kraft

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Textilien in verschiedenen Farben nach dem Färben.
Textilien in verschiedenen Farben nach dem Färben.

Foto: ISSOUF SANOGO/AFP via Getty Images

Die Tür zum Atelier von Maria Cristina Bocaneala ist offen. „Atelier“ - so der rumänische Ausdruck für eine Werkstatt, einen Ort, wo von Hand langlebige, schöne und praktische Dinge hergestellt werden.

Die kleine Schneiderwerkstatt im Zentrum von Schässburg (rum.: Sighișoara, ung.: Segesvár) ist hell erleuchtet, fast rund um die Uhr. Arbeitsbeginn ist 6 Uhr, die Chefin bleibt auch schon mal über Nacht, um zu nähen, zu entwerfen, zu tüfteln. Im Raum hängen fertige und fast fertige Kleider und Taschen neben Wandschmuck. Die Maschinen sind neu, die Arbeitsplätze sauber. Es herrscht kreatives Chaos. Bocaneala trägt eine schwarze Brille, eine graue Schürze und hat noch das Maßband und eine Schere um den Hals hängen. Sie bietet alkoholfreie Biermischgetränke an, im Weinglas – das sei stilvoller, sagt sie.

Das Schneider-Atelier gibt es erst seit knapp drei Jahren; heute ist es das Einzige in der Stadt. Bocaneala hatte gerade erst einen Fördermittelantrag über das rumänische Start-up-Nation-Programm gestellt und die Bewilligung erhalten als das Land ins Corona-Tief rutschte. Zwei große Firmen dieser Branche aus der Stadt hatten in der Corona-Zeit dicht gemacht. Einige arbeitslos gewordene Näherinnen konnte sie übernehmen.

Und dann hatte sie eine Idee: Masken für gehörlose Menschen. In Rumänien gibt es etwa 24.000 Gehörlose, die in rund 90 Städten Selbsthilfevereine gegründet haben. Bocaneala ist Ärztin von Beruf; sie wusste genau, worauf es bei den Masken ankam. Sie tüftelte, entwarf Prototypen und nach kurzer Zeit ging die Produktion los: FFP2-Stoff-Masken mit eingenähter Plexiglasscheibe, die das Lippenlesen ermöglichen. Die ersten verschenkte sie, erzählt sie. Im Laufe einer Woche hatte es sich herumgesprochen. Gehörlosenvereine aus dem ganzen Land riefen an: „Wie viele können Sie fertigen? Welche Produktionskapazitäten haben Sie?“ Bocaneala ging aufs Ganze und sagte alle Aufträge zu. Sie ist ein Arbeitstier.

Dabei war ihr Weg alles andere als einfach. Die Bukaresterin mit siebenbürgischen Wurzeln ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und lebt erst seit acht Jahren in Schässburg. Vorher Schulden, Scheidung, Umschulungen, zwei, drei Jobs parallel, Arbeit in Deutschland. Sie beschreibt sich selbst als stark, mutig und kämpferisch. Der Kinder wegen, mache sie das alles. Darauf kommt sie im Laufe des Gesprächs immer wieder zurück: die Kinder sind ihr Antrieb. Damals auf der Piața Victoriei im Zentrum Bukarests, als sie mit drei Kleinkindern (1, 3, 5 Jahre alt) aus der Bank kam, als sie den Schock verarbeiten musste, dass das Sparkonto längst geplündert war – da habe sie Eines verstanden: „Es hängt allein von dir ab!“.

Traista-n băț”, der Name ihres ersten Labels, enthält viel von dem, was sie selbst gelebt hat: Sein Bündel schnüren und los ziehen. „Mit dem Bündel geschnürt, dem Leben in der Tasche, werd' ich die Erde erobern“ - dieser Spruch zierte die Beutel, die sie als Erstes unter diesem Label anbot. Aus Bukarest wegzugehen fiel ihr nicht schwer, die Menschen waren egoistisch, kalt und alles im Leben hing von guten Beziehungen ab. In Siebenbürgen würden sie die Leute auf der Straße grüßen, und es gehe menschlicher zu, sagt sie. Dabei geht es auch hier nicht ohne Beziehungen und Schmiergeld. In ihrem ursprünglichen Beruf zu arbeiten klappte nicht, weil im städtischen Krankenhaus Posten nur gegen Bezahlung zu haben gewesen seien. „Ich bezahle doch nicht, um arbeiten zu dürfen“, empört sie sich.

So hat sie die verschiedensten Jobs gemacht, um ihre Familie durchzubringen. „Vor Allem im Leben hab' ich Angst – nur nicht vor der Arbeit“. Sie hat jede erdenkliche Fortbildung gemacht, im Callcenter einer italienischen Vodafone-Tochter gearbeitet, für FreundInnen und KollegInnen die Steuererklärung gemacht, im veterenärmedizinischen Bereich gearbeitet und beim Lokalradio RadioSon Sighișoara die Morgen-Show moderiert. Als Managerin hat sie den Aufbau einer Privatklinik begleitet. In der Nähe von Fürth war sie Physiotherapeutin.

Und dann ging sie in ein ganz neues Feld: die Schneiderei. Vom Vater hatte sie eine Nähmaschine vererbt bekommen. Anfangs hat sie nachts genäht; tags übte sie mindestens zwei andere Jobs aus. Das erste Projekt waren die Beutel; die verkaufte sie auf dem bekannten Mittelalterfest der Stadt. Dann folgten – inspiriert von Stick-, Klöppel-, Web- und Näharbeiten aus den umliegenden Dörfern – weitere Produkte.

Eine Idee leitet sie bis heute: „Das Traditionelle ins Heute holen“. Das ist ihre Mission, das treibt sie an. Und das sagt sie auch der Kundin, die heute Abend eher zufällig in die Werkstatt kommt. „Wir produzieren alles, auf Anfrage“. Das Geschäftsmodell ist so einfach wie überzeugend. Aktuell produziert sie neue Schutzwesten für die lokale Polizei – wieder so ein Auftrag, den sie mit Kreativität und Mut umsetzen wird. Am Wochenende geht sie in die Oper nach Kronstadt (rum.: Brașov, ung.: Brassó); dafür schneidert sie sich gerade noch die Abendrobe. Überhaupt hat das Designen von Schnittmustern und Mode einen immer größeren Stellenwert erhalten; die Kleider auf der Stange sind Unikate.

Noch fehlt es an KundInnen, bzw. an Sichtbarkeit. Am Atelier erlaubt der Vermieter kein Schild, sie tüftelt an einer Lösung. Die Vermarktung läuft über Kontakte und die Facebookseite mit dem Namen des Labels „Haine faine Sighișoara” (dt.: feine Kleidung Schässburg). Sie wolle der Stadt etwas zurückgeben, daher der Name der Stadt im Label. Wenn sie nicht gerade den „Näh-Krieg“ (rum.: război de țesut) führt, wie Bocaneala im Scherz sagt, plant sie neue Projekte. Jetzt, wo die Kinder ihren eigenen Weg gehen, wird sie viel Zeit haben.

In Kooperation mit einem Verein lässt sie aus Stoffresten „Fäden“ herstellen, aus denen Neues gewebt wird. Die ProduzentInnen sind junge Menschen mit Behinderungen, die so am Erwerbsleben teilhaben können. Einer Oma aus einem Dorf in der Nähe kauft sie geklöppelte Blumenmuster ab, die sie auf T-Shirts und Taschen näht. Einer der wenigen wollverarbeitenden Betriebe des Landes – die Verarbeitungskosten sind so hoch, dass die Schäfer die Wolle ihrer Tiere verbrennen - liefert naturbelassene Schafwolle, die sie weiterverarbeitet. All diese Kooperationen könnte man ausbauen, überlegt sie.

Als nächstes will sie aber eine Berufsschule initiieren, wo Jugendliche die alten Handwerke erlernen sollen: spinnen, weben, sticken, knüpfen, stricken, nähen, … Ein Gebäude dafür hat sie schon im Blick; genau dort, wo sie früher als Stadtkind ihre Sommerferien verbrachte. Dort, von wo aus zwischen den 1970er und 1990er Jahren so ziemlich alle Handwerker – Siebenbürger Sachsen – ausgewandert waren. Wo es plötzlich keine Schneider, keine Stiefelmacher und keine Radmacher mehr gab. Dort will die Mittvierzigerin alte Handwerke rund um Stoffe neu beleben, denn: „Es gibt keine Probleme ohne Lösung“. Sie sitzt schon am Fördermittelantrag.

Mehr Infos zum Label "Haine faine Sighișoara":
https://www.facebook.com/broderiesighisoara

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