Die Krise selbst überwinden

Roma In Rumänien kämpft eine Partei für Menschen, die im täglichen Überlebenskampf Besseres zu tun haben als wählen zu gehen. Damit sich das in Zukunft ändert. Ein Gespräch

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Eine Romni in Petrosani
Eine Romni in Petrosani

Foto: Daniel Mihailescu/AFP/Getty Images

Am 27. September fanden in Rumänien Lokalwahlen statt. Marian, du bist Mitglied der Vereinigung Roma-Partei Pro Europa (APRPE), einer Minderheitenpartei, die auch im rumänischen Parlament vertreten ist. Alles in Allem – wie ist es um die politische Repräsentation der Roma-Minderheit in Rumänien heute bestellt?

Marian Daragiu: Laut dem letzten Zensus von 2011 leben in Rumänien über 620.000 Roma, das sind 3,3 Prozent der Bevölkerung. Tatsächlich ist die rumänische Roma-Bevölkerung viel größer, nämlich ca. 2 Mio., also ca. 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Gründe, warum Menschen ihre Zugehörigkeit zur Minderheit der Roma verbergen, sind vielfältig, hängen aber im Grunde mit Diskriminierung, Vorurteilen und den Roma zugeschriebenen negativen Stereotypen zusammen.

Zur Person

Marian Daragiu ist Soziologe und APRPE-Politiker aus Oradea. Er ist außerdem Vorsitzender der Ruhama-Stiftung

Die Roma-Minderheit ist auf der administrativen und Entscheidungsebene extrem unterrepräsentiert. Viele von ihnen verfügen nur über niedrige Bildungsabschlüsse und haben einen begrenzten Zugang zu grundlegener Infrastruktur wie Wasser, Elektrizität oder Kanalisation. Die meisten Roma-Familien auf dem Land leben an den Rändern der Siedlungen in Häusern und auf Land mit ungeklärten oder undokumentierten Besitzverhältnissen; sie sind abhängig von Sozialleistungen des Staates. Unter diesen Bedingungen bleibt die Roma-Bevölkerung eine politische Manövriermasse, die leicht zu manipulieren ist.

Wegen fehlender ökonomischer Unabhängigkeit oder durch eigene Kraft geschaffener finanzieller Sicherheit bleibt die Frage nach politischer Repräsentation und Repräsentativität eher eine theoretische. Dennoch beobachten wir in den letzten Jahren einen Fortschritt bei der Roma-Bevölkerung, die überwiegend damit zusammen hängt, dass in die Bildung der Kinder investiert worden ist, die heute erwachsen sind. Deshalb bleiben wir zuversichtlich, dass Jugendliche durch gute Bildung wirtschaftliche Unabhängigkeit erreichen können und sich danach auch politisch einbringen können.

Was hat es mit der Partei APRPE auf sich? Was sind ihre Ziele?

Die Vereinigung Roma-Partei Pro Europa (APRPE) ist eine Nichtregierungsorganisation der Roma-Minderheit, die in über 35 der 41 Kreise Rumäniens aktiv ist. Angesichts der geografischen Verbreitung und der Anzahl ihrer Mitglieder kann die APRPE die Interessen der Roma-Minderheit durch Aufstellung und Wahl eigener KandidatInnen auf den Listenplätzen vertreten. So ist die APRPE derzeit die einizige politische Vertretung der Roma im rumänischen Parlament, wo sie in der Nationalen Gruppe der ethnischen Minderheiten neben 16 anderen Minderheitenvertretungen in der Abgeordnetenkammer organisiert ist. Die Roma-Minderheit hat wie jede andere nationale Minderheit in Rumänien das Grundrecht, im Parlament durch einen Abgeordneten der APRPA-Liste vertreten zu sein.

Zu den Zielen von APRPE gehört es, sicherzustellen, dass die Angehörigen der Roma-Minderheit jede Möglichkeit erhalten, an Kommunal-, Parlaments- und Europawahlen teilzunehmen, das Passiv- und Aktivwahlrecht für sie zu gewährleisten, damit sie politisch direkten Einfluss auf ihre Lebensumstände nehmen können und dafür zu sorgen, dass die Interessen der Wählerschaft, die der Roma-Minderheit angehört, bestmöglich vertreten werden. Gleichzeitig bleibt APRPE eng mit den jeweiligen Roma-Gemeinschaften und ihrer Lebenswirklichkeit verbunden, auch, um die politische Agenda dahingehend zu beeinflussen, dass Gesetze zum Nutzen der Roma vorgeschlagen, geändert und verabschiedet werden. Durch wiederholte Kampagnen investieren wir von APRPE weiterhin kräftig in die Bildung von Roma-Jugendlichen, um sie auf das Leben als Erwachsene, als aktive Staatsangehörige und als Aktive für die Interesse ihrer Gemeinschaft vorzubereiten.

Für die Wahlen hatten du und deine Partei-KollegInnen das Ziel, die Anzahl der RepräsentantInnen der Roma-Bevölkerung auf lokaler Ebene zu erhöhen. Was habt ihr in dieser Hinsicht unternommen?

Hauptsächlich haben wir bei den VertreterInnen der Roma-Gruppen ein Bewusstsein dafür gefördert, wie wichtig es ist, dass sie sich beteiligen, die Jugendlichen, die Frauen und die Männer – egal, ob bei Kommunal-, Kreistags-, Parlaments- oder Europawahlen – damit sie nicht nur RezipientInnen politischer Maßnahmen sind, sondern teilhaben an den Entscheidungsprozessen. Wir wollen Leute, die Programme und Lösungen vorschlagen zur Überwindung der Krise, in der sich die allermeisten der Gemeinschaften befinden, aus denen sie stammen.

In Rumänien leben über 2 Mio. Roma. Wir sprechen also von der größten ethnischen Minderheit des Landes. Ihre Wählerstimme hat Gewicht, trotzdem gehen viele nicht wählen oder werden manipuliert. Was lässt sich über die Wählerschaft mit Roma-Identität sagen?

Das Wählerpotential bei den Roma ist ziemlich flüchtig, hauptsächlich weil die große Mehrheit der Roma in Armut lebt. Unter solchen Umständen hat die Beschäftigung mit Politik nur nachrangige Bedeutung. Oder aber wird aktiviert, wenn sich PolitikerInnen für die Lage benachteiligter Bevölkerungsgruppen interessieren, besonders im Wahlkampf.

In Anlehnung an die Bedürfnispyramide von Maslow könnte man sagen, dass, um am sozialen und politischen Leben teilzuhaben, zunächst die Grundbedürfnisse erfüllt sein müssen. Klar zählt jede Stimme und wir müssen uns die Unterschiede bei den Bemühungen und Investitionen der KandidatInnen anschauen, mit denen sie ihre WählerInnen erreichen wollen. Während aber für eine Person, deren Grundbedürfnisse erfüllt sind, der Diskurs eines Kandidaten eher ideologisch anmutet und seine Wahlversprechen glaubwürdig, konsistent und bezahlbar sein müssen (z.B. europäische Fördermittel, Autobahnbau, Lösung von Umweltproblemen oder Investitionen im unternehmerischen Bereich), sind die Kosten, die er „zahlen“ muss, um eine Person, die sich auf das tägliche Überleben konzentriert, wesentlich niedriger und händelbarer. Je niedriger das Bildungsnievau einer Bevölkerungsgruppe – Roma oder Nicht-Roma, das spielt keine Rolle – und je extremer die Armutslage sind, desto leichter lässt sie sich auch mit den einfachsten Mitteln „überzeugen“.

Hier setzen APRPE und andere Roma-Organisationen an, indem sie massiv in die Bildung von Roma-Kindern und -Jugendlichen investieren, um eine wirtschaftlich unabhängige und frei denkende Generation von Roma zu bekommen.

Du bist APRPE-Koordinator für West-Rumänien. Was sind die wichtigsten politischen Projekte der Partei in dieser Region und welche Unterschiede siehst du hier im Vergleich zu den anderen Regionen des Landes?

Die rumänischen Roma-Gemeinschaften haben – wie in anderen Teilen Europas – viele Gemeinsamkeiten. Sie leben vorwiegend auf dem Land oder an den Rändern der Städte, und zwar in geografisch isolierten Gegenden, ohne direkten Bezug zur Mehrheitsgesellschaft. Meist leben sie durch symbolische Elemente wie eine Eisenbahntrasse, ein Tal, einen Hügel, einen Fluss, ein Feld, eine Müllhalde o.ä. von der übrigen Bevölkerung getrennt. Diese Roma-Gemeinschaften führen ein Leben mit vielen Risiken, bei schwacher Gesundheit wegen fehlender Wohnmöglichkeiten und mit begrenztem Zugang zu allgemeinen Ressourcen wie Trinkwasser, Elektrizität, befestigten Straßen, aber auch mit sehr weit entfernten Schulen und Kindergärten, mit geringem Bildungs- und Beschäftigungsniveau.

Meine KollegInnen und ich von APRPE, aber auch Menschen aus der Zivilgesellschaft, versuchen unter diesen Umständen vor allem Bildungs- und Gesundheitsprogramme auf die Beine zu stellen, ebenso Alphabetisierungsprogramme und Tageszentren für Kinder und Erwachsene. Auch das Projekt „Eine zweite Chance“ für Jugendliche und Erwachsene, was durch Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten einen Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnet, führen wir durch. Nicht zuletzt versuchen wir die rumänische Öffentlichkeit für die Situation und die „Dynamik des Teufelskreises“ zu sensibilisieren, der der Großteil der Roma-Bevölkerung ausgesetzt sind.

Und vielleicht die meiste Energie verwenden wir darauf, mit öffentlichen Behörden auf allen Ebenen zusammenzuarbeiten, damit die Probleme der Roma mit Professionalität angegangen werden, damit Programme und Beispiele guter Praxis übernommen werden und damit diese in mittel- und langfristige politische Programme überführt werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
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