Flucht durch die Donau nach Westeuropa

Ungeschriebene Geschichte Vor 50 Jahren öffnete sich Rumänien gegenüber dem Westen - auch gegenüber der Bundesrepublik. Gleichzeitig starben an seinen Grenzen DDR-Bürger auf der Flucht

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Vergessene Geschichte? Ehemaliger DDR-Grenzpfeiler
Vergessene Geschichte? Ehemaliger DDR-Grenzpfeiler

Foto: Jens Schlueter/AFP/Getty Images

Es gibt Kapitel der Geschichte, die in keinem Geschichtsbuch auftauchen. Ein rumänisches Journalisten-Duo hat sich einem bislang kaum bekannten Kapitel der europäischen Geschichte zugewandt: den Flüchtlingen an der ehemaligen rumänisch-jugoslawischen Grenze – darunter auch vielen ostdeutschen. Marina Constantinoiu und Istvan Deak vom Nachrichtenportal Mișcarea de rezistență (Rum.: Widerstandsbewegung) versuchen mit ihrem Projekt Frontieriștii (Rum.: Grenzer) herauszufinden, unter welchen Umständen Flüchtlinge aus damaligen Ostblockstaaten versuchten, im westrumänischen Donaugebiet nach Westeuropa zu gelangen. Bereits seit 2006 arbeiten sie daran. Auf einer Konferenz des Institutes für den Donauraum und Mitteleuropa in Wien haben die beiden kürzlich ihre Arbeit vorgestellt.

Das Klima für kritischen Journalismus ist in Rumänien denkbar ungünstig – staatliche Förderung bekam das Projekt nicht. Seit kurzem wird die Arbeit mit einem Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung gefördert.

Auch was die Unterstützung auf anderen Wegen angehe, sei vom rumänischen Staat wenig zu erwarten. Die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit kommt nur schleppend voran. 1999 wurde per Gesetz der Nationale Rat für das Studium der Archive der Securitate (Rum.: Consiliul Național pentru Studierea Arhivelor Securității, CNSAS) gegründet; die Behörde besitzt rund 1,6 Mio. Geheimdienstakten. Die bürokratischen Hürden sind jedoch hoch: von den 123 vorhandenen Akten zu den rumänischen Grenzen seien seit Gründung des Institutes sieben der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, sagen Constantinoiu und Deak. Sie wirken abgekämpft; aufgeben wollen sie aber nicht.

Alles begann in den 1960er Jahren. In der DDR, der BRD und in der VR, bzw. SR Rumänien und vor allem zwischen diesen Ländern.

DDR. Nachdem 1961 mit dem Mauerbau die Grenzen der DDR zur Bundesrepublik dicht gemacht wurden – bis dahin hatten ca. 2,5 Mio. Ostdeutsche die DDR gen Westen verlassen – suchten DDR-BürgerInnen nach neuen Möglichkeiten und Routen, in den Westen zu gelangen. Von der rumänisch-jugoslawischen Grenze erhofften sich viele, dass sie durchlässiger sei als anderswo.

SR Rumänien. Dort war 1965 ein neues Staatsoberhaupt an die Macht gekommen: Nicolae Ceaușescu. Er strebte eine größtmögliche nationale Eigenständigkeit an: einen „eigenen Weg zum Sozialismus“. Über seine Ziele schrieb er: „Das sozialistische Rumänien ist an der Erzielung der Sicherheit und Kooperation auf dem Kontinent, an der umfassenden Entwicklung der zwischeneuropäischen Beziehungen auf allen Gebieten sowie an der Annäherung und Verständigung der Nationen in gutnachbarschaftlichem Geiste zutiefst interessiert und kämpft konsequent für die Verwirklichung dieser Ziele“. Teil dieser Programmatik war die Öffnung des Landes gegenüber Westeuropa. 1967 hat Rumänien als zweites Land des Ostblocks eine Botschaft in der BRD eröffnet.

Die Personenfreizügigkeit zwischen diesen beiden Ländern wurde erleichtert. So bekamen rumänische Staatsangehörige Ende der 60er Jahre die Möglichkeit, in den Westen zu reisen. Auch weil sich Rumänien im von der UNO ausgerufenen Internationalen Jahr des Tourismus als weltoffenen Staat präsentieren wollte. Zwischen 1967 und 1969, so beschreibt es Georg Herbstritt, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Berliner Stasiunterlagen-Behörde, habe der rumänische Staat eine Pilotphase durchgeführt. Constantinoiu und Deak gehen davon aus, dass dabei die Eliten adressiert worden waren. Bei Evaluationen stellte man dann fest, dass zwar die meisten der ausgereisten RumänInnen wieder eingereist waren, aber auch ein bis zwei Prozent von ihnen im Ausland verblieben waren - mit jährlich steigender Tendenz.

Einige Regierungsmitglieder, wie etwa der Innenminister, bewerteten das insgesamt eher positiv. Die im Westen lebenden RumänInnen würden mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später zurückkommen, da ihre Familien ja im Land verblieben waren. Außerdem schickten sie Geld nach Hause.

Die meisten Regierungsmitglieder im ZK der Rumänischen Kommunistischen Partei bewerteten die im Ausland Gebliebenen eher negativ. Die EmigrantInnen oder Flüchtlinge wurden als "LandesverräterInnen" gebrandmarkt.

Dass rumänische Staatsangehörige die Reisefreiheit nutzten, um im Westen zu bleiben, veranlasste den Staat dazu, Maßnahmen gegen den anhaltenden Exodus zu ergreifen. Landesflucht wurde strafrechtlich verfolgt und ab 1971 der Gebrauch von Schusswaffen an der rumänischen Grenze deutlich verschärft, so Herbstritt.

BRD. In bundesdeutschen Tourismus-Zeitschriften aus dieser Zeit schlägt sich nieder, dass Rumänien ab 1967 von westlichen BesucherInnen als Reiseziel entdeckt werden wollte. In Westermanns Monatsheften erscheinen Ende der 60er Jahre mehrere Reiseberichte. Michael Bischoffs jubelt in seinem Artikel „Nur noch ein Hauch von Balkan“, dass Fremde sich in Rumänien „jeglicher Freizügigkeit“ erfreuten; Einreisevisa würden „neuerdings“ sogar an der Grenze ausgestellt. Auch Jakob Ehrenhaus, ein anderer Schreiber aus der BRD, hat keine Probleme im „Urlaub mit Schönheitsfehlern“: „Ich […] war […] von der verhältnismäßig schnellen und zuvorkommenden Zollabfertigung – das Touristenvisum wurde als Sichtvermerk kostenlos in den Reisepaß gestempelt, das Gepäck blieb unbeachtet – überrascht“. Der Exilrumäne Ion Popinceanu schätzt in seiner Länderkunde zu Rumänien (1967) die Zahl bundesdeutscher TouristInnen in Rumänien 1965 auf 35.000 und im Folgejahr auf 65.000. Das rumänische Touristenamt Carpați hat in dieser Zeit auch erstmals Broschüren auf Deutsch herausgebracht: „Willkommen in Rumänien“.

Auch wirtschaftlich hatten sich die BRD und Rumänien angenähert. Ein entsprechendes Handelsabkommen existierte seit 1963. Die Bundesrepublik war in den Folgejahren zum wichtigsten westlichen Handelspartner geworden. Auch hatte die BRD ab 1967 damit begonnen, rumänische Staatsangehörige deutscher Nationalität (Rumäniendeutsche) freizukaufen. Mit dem Buch „Kauf von Freiheit“ hat Heinz-Günther Hüsch 2013 einen großen Beitrag zur Aufarbeitung dieser Geschichte geleistet.

Marina Constantinoiu und Istvan Deak berichten aus der gleichen Zeit und den gleichen Ländern, aber von gänzlich anderen Geschehnissen. Sie berichten von insgesamt etwa 800 DDR-BürgerInnen, die seit den 60er Jahren versucht haben, über die Donau in den Westen zu schwimmen. Die Zahl der rumänischen Flüchtlinge ist ungleich höher: man schätzt sie für die Zeit von 1969 bis 1989 auf bis zu 100.000. Die Zahl der Todesopfer kennt niemand.

Die JournalistInnen von Mișcarea de rezistență beschreiben ihre Recherchen, die sie auch ins heutige Serbien führen: auf Friedhöfe und zu Gerichtsmedizinern. Diese hätten von allen Obduktionsberichten eine Kopie zu Hause. Wenn Leichen nackt oder nur in Badehose gekleidet aus der Donau geborgen wurden, die um den Bauch eine Plastiktüte mit Personendokumenten gebunden hatten, handelte es sich mit Sicherheit um „Frontieriști”, um Flüchtlinge, die ertrunken oder erschossen worden waren.

Constantinoiu und Deak sammeln Aussagen über vermisste Familienangehörige, verfolgen Spuren in die aktuelle rumänische Politik, versuchen Menschen zum Reden zu bringen. Sie brechen ein Tabu und bekommen nicht selten zu hören, dass dies alles nur „Geschichten“ seien, erschossene Flüchtlinge an der rumänischen Grenze – das habe es nie gegeben.

Und sie versuchen auch, die Verstrickungen zwischen ostdeutschem und rumänischem Geheimdienst zu verstehen. Wo hatte die Stasi ihre Finger im Spiel? Wie weit gingen die Befugnisse der Securitate? Constantinoiu und Deak arbeiten mit dem deutschen Historiker Georg Herbstritt zusammen, der Mitarbeiter in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ist. „We will never finish“, sagt er in Wien, als er nach einem möglichen Projektabschluss gefragt wird.

Im März diesen Jahres werden die Ergebnisse ihrer Recherchen publiziert. Constantinoiu und Deak arbeiten ein Stück europäischer Geschichte auf, was so bisher nicht bekannt ist. Constantinoius Anliegen ist es: „to make people realize that […] we have to admit that crimes were commited“. Fragt sich, wann sich die Bundesrepublik damit auseinandersetzen wird.

Buchempfehlung:
Herbstritt, Georg (2016): Entzweite Freunde. Rumänien, die Secutitate und die DDR-Staatssicherheit 1950 bis 1989, Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen

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