Illegalisierte Europäer

Armut In Hamburg werden obdachlose EU-BürgerInnen immer öfter von der Polizei angesprochen. Sie sollen sich bei der Ausländerbehörde melden.

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Illegalisierte Europäer

Foto: Chris J Ratcliffe/Getty Images

David ist ein junger Mann mit leuchtenden Augen. Seitdem das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt über ihn berichtete ist er ein bisschen berühmt. Im Dezember hatte David im öffentlichen Raum in Wandsbek gelebt. Im Park, im Auto, wo er was fand. Als die Behörden räumen ließen verlor David alle Habseligkeiten. Noch vor Weihnachten reiste er zurück nach Rumänien – ohne Gepäck und ohne Geschenke.

Inzwischen ist David wieder in Hamburg. Er war auch zur Veranstaltung Hamburg! Gerechte Stadt“ gekommen. Da ging es schließlich um Menschen wie ihn. Wohlfahrtsverbände hatten eingeladen, um über das Thema Armut und Europa zu sprechen. Was tun mit osteuropäischen Obdachlosen?, lautet die aktueller Kernfrage in Hamburg und vielen deutschen Kommunen. Was tun mit Leuten wie David? Kein gesicherter Lebensunterhalt, keine Krankenversicherung, keine Deutsch-Kenntnisse, keine Ausbildung. Keine Chance?

Obdachlose Menschen, die aus den östlichen oder südöstlichen Mitgliedsstaaten der EU nach Hamburg gekommen sind, können sich in der freien und Hansestadt immer weniger frei bewegen. Vor einem Jahr hat die Stadt damit begonnen, den chancenlosen Zugewanderten das Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik abzuerkennen. Mitunter wurde das Vorgehen als Säuberungsaktion vor dem prestigeträchtigen G20-Gipfel gesehen. Doch das behördliche Vorgehen ist mehr als ein kurzfristig angelegte Vertreibungsaktion.

Wie MitarbeiterInnen niedrigschwelliger Beratungseinrichtungen für Wohnungslose berichten, erhielten obdachlose Menschen osteuropäischer Herkunft Anfang 2017 die ersten Anhörungsschreiben, in denen ihnen mitgeteilt wurde: Sie genießen keine Freizügigkeit. Wenn man sich dazu nicht binnen einer Frist weniger Wochen äußere, werde nach Aktenlage entschieden, teilte das jeweilige Bezirksamt damals mit.

Im April war die Zuständigkeit für obdachlose UnionsbürgerInnen dann zur Behörde für Inneres und Sport gewechselt. Diese hatte mehrsprachige Schreiben - sogenannte Aufforderungen zur Vorsprache bei der Ausländerbehörde - erstellen lassen, abgespeichert unter der verräterrischen Bezeichnung Vorsprache Obdachlose EU. Ob diese Schreiben den Rang einer Anhörung im Sinne des Verwaltungsverfahrensgesetzes haben, ist nicht ersichtlich. Der / Die AdressatIn wird darüber informiert, dass Zweifel daran bestehen, „dass Sie die Voraussetzung des Rechts auf Einreise und Daueraufenthalt […] erfüllen“. Binnen eines Monats seien bei der Ausländerbehörde vorzusprechen und geeignete Nachweise vorzulegen. Andernfalls werde nach Aktenlage entschieden und der entsprechende Bescheid „durch Aushang öffentlich zugestellt“, sollte keine Anschrift vorhanden sein.

Wie Hinz&Kunzt berichtet, wurden bisher etwa 600 Personen durch die Ausländerbehörde vorgeladen. Über 100 hätten ihr Recht auf Freizügigkeit verloren. Dies ist ein wahres Meisterwerk der Rechtsbiegung, wenn man bedenkt, welch hohen Stellenwert die Freizügigkeit der UnionsbürgerInnen im Vertragswerk und in der Geschichte der EU hat. Als Arbeitnehmerfreizügigkeit tauchte sie schon 1957 in den Römischen Verträgen der sich konstituierenden Union auf – zusammen mit dem Diskriminierungsverbot. Genau an diese europäischen Werte legt Hamburg nun die Axt.

Während in anderen Bundesländern und Kommunen darüber debattiert wird, wieviele soziale Rechte UnionsbürgerInnen haben dürfen, ja, am EuGH regelmäßig und auch aktuell zu klären ist, inwieweit EU-BürgerInnen diskriminiert werden dürfen, während allerorten mehr oder weniger anerkannt ist, dass rumänische, bulgarische oder polnische Zugewanderte europäische BürgerInnen sind, die durch die Unionsbürgerschaft deutschen Staatsangehörigen grundsätzlich gleichzustellen sind, geht Hamburg einen gänzlich anderen Weg.

Die Hansestadt hebelt die Gleichbehandlungsforderung dadurch aus, dass sie UnionsbürgerInnen wieder zu dem macht, was sie vor 2004, bzw. 2007 und 2013 waren: Drittstaatenangehörige, die für einen legalen Aufenthalt in Deutschland genügend Existenzmittel nachzuweisen haben. Es ist nicht leicht, aber es ist möglich: das vorrangig geltende Unionsrecht, d.h. das geltende Freizügigkeitsgesetz zu entwerten, indem das Aufenthaltsrecht (wieder) nach dem Aufenthaltsgesetz geregelt wird. Dies ist vor allem deshalb nicht einfach, weil die Freizügigkeitsrichtlinie der EU sehr großzügige Rechte für mobile EuropäerInnen vorsieht.

Das Recht auf Einreise und Aufenthalt kann „nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ entzogen werden. Selbst eine strafrechtliche Verurteilung reicht nicht aus, um jemanden des Landes zu verweisen. So regelt das Gesetz: „Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.“ Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit lägen unter anderem dann vor, „wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht“.

Die obdachlosen UnionsbürgerInnen in Hamburg dürften keinen der o.g. Tatbestände erfüllt haben. In den Bescheiden und Verfügungen der Ausländerbehörde finden sich denn auch Begründungen, die durch Einlegung eines Rechtsmittels wohl kaum Bestand gehabt hätten. Den Betroffenen wurde in der Regel vorgeworfen, entgegen der Aufforderung nicht bei der Ausländerbehörde vorgesprochen zu haben, ohne festen Wohnsitz zu sein, polizeilich in Erscheinung getreten zu sein und ausreichend Existenzmittel / Krankenversicherungsschutz bisher nicht nachgewiesen zu haben. Die Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts erscheine geeignet, „um die Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu wahren“.

Obdachlosigkeit ist ein soziales Problem. Dass sie sich europäisiert hat, zeigt lediglich, dass ganz Europa ein soziales Problem hat, nämlich eines fehlender Arbeit und fehlender Wohnung für immer mehr Menschen. Die Bescheide der Hamburger Ausländerbehörde machen deutlich, wie die Stadt europäische soziale Problemlagen - speziell Obdachlosigkeit und Chancenlosigkeit - angehen will: durch Kriminalisierung, Illegalisierung, Psychologisierung, Pädagogisierung und Kulturalisierung.

So wird die Ausreiseverfügung eines Rumänen im Dezember 2017 u.a. so begründet: „Laut Aktenlage campen Sie auf nicht genehmigten Flächen und betreten rechtswidrig private Grundstücke, um dort zu übernächtigen [sic]. Dazu nutzen Sie auch die bestehenden Bauten, um sich häuslich niederzulassen. Ihr Verhalten hat gezeigt, dass Sie keinen Respekt vor fremdem Eigentum besitzen. Des Weiteren haben Sie zu keinem Zeitpunkt Ihres Aufenthaltes im Bundesgebiet nachgewiesen, bzw. konnten bei Ihren polizeilichen Aufgriffen zu keinem Zeitpunkt Angaben über die gesetzeskonforme Sicherung Ihres Lebensunterhaltes machen […] Durch Ihr bisheriges Verhalten haben Sie gezeigt, dass Sie offentsichtlich [sic] nicht willens und bereit sind, sich an die geltenden Gesetze und die hiesigen gesellschaftlichen Normen zu halten. Dies wird insbesondere durch Ihren Hang zur Begehung von Straftaten ersichtlich“.

Die Behörde für Inneres und Sport lässt diesen Verfügungen eine sogenannte Grenzübertrittsbescheinigung beifügen. Diese erklärt, auf welche Weise die betroffene Person wohin auszureisen hat, nämlich: Raus aus Schengen! Wegen fehlender Grenzkontrollen im Schengenraum reicht die Ausreise ins Heimatland mitunter aber gar nicht aus, weil dieses u.U. Mitunterzeichner des Schengener Abkommens ist.
Nach Verlassen des Schengen-Raumes habe die Person der deutschen Auslandsvertretung den beigefügten Rücklaufschein vorzulegen, wodurch die tatsächliche Ausreise ersichtlich sei. Wohin muss ein ausreisepflichtiger polnischer Obdachloser also ausreisen, wenn sein vermeintliches Heimatland Polen Teil des Schengen-Raumes ist?

Wer nicht innerhalb der symbolischen Frist von etwa einer Woche freiwillig“, ausreist, riskiert eine Abschiebung. Genaue Angaben dazu blieb die Vertreterin der Innenbehörde auf dem Podium am Dienstagabend zwar schuldig. Dass Hamburg aber auch vor diesen Maßnahmen, die ein Wiedereinreiseverbot nach sich ziehen, nicht zurückschrecken wird, davon ist auszugehen.

David, der wieder in der Stadt ist, hatte bereits gestern wieder Kontakt zur Polizei. Er hatte vorm Bahnhof jemanden um eine Zigarette gebeten, geschnorrt. Als die Veranstaltung endet und die Behördenvertreter eilig den Saal verlassen haben, wendet er sich zögerlich an eine Sozialarbeiterin von Hinz&Kunzt: „Schau mal, das haben mir die Polizisten gegeben“, sagt er auf Rumänisch. In der Hand hält er ein Schreiben: „Aufforderung zur Vorsprache bei der Ausländerbehörde“.

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