Transnationale Familien in Rumänien

Migration heute Ursachen, Bedingungen und Folgen der Arbeitsmigration aus der rumänischen Kleinstadt Dorohoi nach West- und Südeuropa

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Dorohoi ist eine kleinere Kreisstadt mit cirka 23.000 Einwohnern, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Sie liegt ungefähr 20 Kilometer zur ukrainischen Grenze entfernt. Zum Donaufürstentum Moldau gehörig war Dorohoi seit der Vereinigung mit dem Fürstentum Walachei im Jahre 1861 Teil des sich neu konstituierenden "Rumänien" geworden. Die Stadt ist aber mindestens 600 Jahre alt; ihr Name wahrscheinlich slawischen Ursprungs: entweder eine Abwandlung des Wortes „дорогои“ [dorogoi] (= lieb, teuer) oder eine Pluralform des Wortes „дорога“ [doroga] (= Straße). Letztere Möglichkeit ziehen manche deswegen in Betracht, weil Dorohoi seine ökonomische Blütezeit im Mittelalter vor allem seiner Lage an einer Haupthandelsstraße zwischen Schwarzem Meer und Ostsee verdankte. Ab dem 15. Jahrhundert befand sich in Dorohoi außerdem der Hof eines Fürsten, was der Stadt wei­teres Ansehen und Wohlergehen brachte.

Geht man heute durch die Straßen von Dorohoi, ist von dem einstigen Glanz wenig geblieben. Je weiter man sich vom belebten Zentrum und seinem frisch gepflasterten Kreisverkehr entfernt, desto zerfallener die Gebäude und Straßen. Menschen trifft man wenige. An den Rändern der Stadt stehen Fabrikgebäude, liegen Gleisanlagen, lagern Motoren – allesamt zu Zeiten des Kommunismus ge­baut, nun aber stillgelegt und dem Zerfall übergeben.

Sie aber lassen darauf schließen, dass hier einmal viel produziert worden sein muss. Im Interview mit einem Einwohner der Stadt erfahre ich, dass es eine Traktorenfabrik gab in Dorohoi. Nach der Wende von 1989/90 seien die traditionellen Märkte Rumäniens weggefallen, der Absatz gesunken und die Fabriken geschlossen worden. Heute importiere Rumänien Landmaschinen aus Polen, weil dort effizienter und kostengünstiger produziert werden könne, sagt der Mann. Dorohoi war ein Standort der Schwermetallindustrie, wo neben Traktoren auch anderes großes Gerät und Bauteile produziert wurden. Eine Glasmanufaktur zur Herstellung von Flaschen bot ebenfalls viele Ar­beitsplätze.

Die Wende von 1989/90 war für Rumänien wie auch andere osteuropäische Staaten eine dreifache Wende: politisch, soziokulturell und ökonomisch. Im Sommer 1991 endete auch die östliche Wirt­schaftsgemeinschaft der Staaten der ehemaligen Sowjetunion, sodass Handelsbeziehungen wegfie­len. Im Zuge der Marktliberalisierung wurden Fabriken geschlossen, Arbeitsplätze wurden zu tau­senden gestrichen - auch in Dorohoi. Die fehlenden Arbeitsplätze sind ein Grund, warum Menschen sich entschließen, eine Beschäftigung im Ausland zu suchen.

"Es ist eine isolierte Region", sagte mir ein Gesprächspartner. Nach Dorohoi verirre sich kein Investor – die Infrastruktur sei schlecht, die Straßen in einem desolaten Zustand. Er weiß von Verhandlungen mit Investoren zu berichten, die in Dorohoi eine Biogasanlage betreiben wollten. Weil ihnen jedoch kein attaktives Angebot gemacht werden konnte, seien sie weitergezogen – in die Republik Moldau. Mit Textilfabrikanten sei es ähnlich gewesen.

Der Beitritt zur EU, die in Rumänien vor allem als Wirtschaftsunion wahrgenommen wird, war mit der Hoffnung auf eine bessere Integration in den europäischen Markt verbunden. Investoren kamen nach der Öffnung jedoch kaum ins Land.

Drei Folgeerscheinungen der EU-Zugehörigkeit sind aber bis in das abgelegene Dorohoi sichtbar. Erstens spült die EU über diverse Projekte partiell Geld ins Land – in Dorohoi fließt es beispielsweise in ein neu eröffnetes Behindertenheim. Zweitens kamen mit der Öffnung der EU-Grenze auch verstärkt westeuropäische Handelsketten ins Land – in Dorohoi wurde kürzlich ein LIDL eröffnet, ein Penny Markt befindet sich im Bau. Drittens hat die EU-Mitgliedschaft die Reise in andere Mitgliedsstaaten erleichtert – von Dorohoi gibt es unter Anderem eine direkte Buslinie nach Italien, die mehrmals in der Woche verkehrt.

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Lehrerin in Dorohoi hatte ich erstmals die Problematik kennengelernt: Eine Grundschülerin, die sich nicht gut fühlte, sollte nach Hause geschickt werden. Nach Vorschrift muss dort eine Aufsichtsperson sein – sonst darf sie nicht geschickt werden. Als wir sie befragten, wo ihre Eltern und größeren Geschwister seien, bekamen wir die Ländernamen Italien und Portugal zu hören. Das Kind wuchs ohne seine nächsten Verwandten auf; es war seinen Großeltern und Nachbarn anvertraut worden.

2011 waren knapp eine Million rumänische Staatsbürger in Italien gemeldet, in Spanien cirka 850 Tausend. Aufgrund der Ähnlichkeit der rumänischen Sprache mit den südeuropäischen romanischen Sprachen, wählen viel Rumänen diese Länder für ihren Aufenthalt. Jedoch vermittelt das 2002 gegründete rumänische Amt für Arbeitsmigration auch Stellen in Großbritannien, Deutschland, Dänemark oder Schweden.

Zur Arbeit ins Ausland zu gehen, ist in vielen Regionen Rumäniens Normalität geworden – so auch in Dorohoi. Anfang 2013 belief sich dort die Zahl von Kindern mit migrierten Eltern(teilen) auf bis zu 550. Ich gehe daher für Dorohoi von 650 bis 700 Personen aus, die im Ausland sind und Kinder zurückgelassen haben – cirka drei Prozent der Bevölkerung. Wenn man bedenkt, dass die Gesamtzahl der Dorohoier Arbeitsmigrantinnen und -migranten noch höher anzusetzen ist, weil bisher die Unverheirateten und Kinderlosen nicht berücksichtigt wurden, dürften insgesamt bis zu zehn Prozent der Bevölkerung temporär im europäischen Ausland arbeiten.

Die Zahl von zehn Prozent ist eine Schätzung, die sich auch ergibt, wenn man die Zahl rumänischer Staatsbürger in ganz Europa betrachtet: über zwei Millionen Rumänen und Rumäninnen leben nicht dauerhaft in ihrer Heimat – zehn Prozent der Bevölkerung Rumäniens.

Im Laufe der Gespräche in Dorohoi ergab sich ein sehr differenziertes Bild, wie die Arbeit im Ausland und familiäre Angelegenheiten organisiert werden. Insgesamt überwiegt die Variante, dass ein Elternteil im Ausland tätig ist und die Kinder beim anderen Elternteil aufwachsen. Von zwei Fünftel der Kinder sind die Väter migriert, von einem Drittel die Mutter und ein Fünftel wächst weder bei Vater noch Mutter auf. Was die Unterbringung der Kinder angeht, zeigte sich ebenfalls ein heterogenes Bild: 40 Prozent leben bei ihrer Mutter, 30 Prozent bei den Großeltern, 20 Prozent beim Vater; außerdem werden ältere Geschwister und entferntere Verwandte einbezogen und in seltenen Fällen wachsen Kinder auch in staatlicher Obhut auf.

Ebenfalls sehr variabel ist die Dauer, für die Rumänen und Rumäninnen ins Ausland gehen. Eine Sozialarbeiterin in Dorohoi berichtete von einem Kind, dessen Mutter (alleinerziehend) und Oma abwechselnd für jeweils cirka drei Monate im Ausland tätig seien. Die Bandbreite reicht insgesamt von jenen, die ihren Lebensmittelpunkt beispielsweise in Italien haben und nur noch für Besuche nach Rumänien kommen, bis zu denjenigen, die die Arbeit im Ausland als ein vorübergehendes Übel betrachten und generell in Rumänien bleiben wollen. Erstere holen meist ihrer Kinder (und Eltern) nach - letztere hoffen, längerfristig wieder in Rumänien eine Beschäftigung zu finden.

So unterschiedlich die Formen der Auslandsaufenthalte und -tätigkeiten, so unterschiedlich auch die Motivlagen, die Hoffnungen und Erwartungen. Meine anfängliche Vermutung, dass Menschen ins Ausland gehen, weil sie keine Arbeit finden in Rumänien, bestätigte sich nur teilweise. In den vor Ort geführten Gesprächen kristallisierte sich heraus, dass es auch das rumänische Lohnniveau ist, was Menschen migrieren lässt. Nicht keine Arbeit ist vielerorts das Problem, sondern keine ausreichend bezahlte Arbeit. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 hat sich die Lage in dieser Hinsicht noch verschärft. Damals hatte die Regierung Staatsbedienstete entlassen, die Gehälter der Verbliebenen um 25 Prozent gekürzt und die Mehrwertsteuer auf 24 Prozent erhöht. Was die Zahl der Auswandernden anbelangt, so ist diese nach der Krise ebenfalls mehr gestiegen als nach dem EU-Beitritt. In diesem Zusammenhang muss außerdem auf die seit 2012 herrschende Staatskrise hingewiesen werden, die vor allem eine innenpolitische ist und entsprechend untaugliche Lösungen für die teils gravierenden Probleme des Landes zur Folge hat.

Was bedeuten diese Vorgänge im Großen aber für die Bürger und Bürgerinnen im Kleinen? Welche Lebensumstände bringen Menschen dazu, das Land zu verlassen? Es sind vor allem Mängel im Gesundheits- und Bildungswesen, in der sozialen Fürsorge und dem kulturellen Bereich, die Rumänen durch Tätigkeiten im europäischen Ausland auszugleichen versuchen.

Ein Interviewpartner berichtet von den Zuständen im städtischen Krankenhaus, wo Patienten bei einer OP bis auf die Instrumente des Arztes alles selbst stellen müssten (Verbandsmaterial, Faden, ...) - obwohl sie krankenversichert seien. Die Gelder der Krankenkassen würden versickern und kämen nicht denjenigen zugute, die in sie einzahlten.

Eine Dame erzählt im Gespräch von der Notwendigkeit, einer besser bezahlten Tätigkeit in Spanien nachzugehen, um den Kindern in der Heimat eine gute Ausstattung für die Schule gewährleisten zu können. Auch eine Hochschulausbildung ist ohne finanzielle Absicherung kaum zu machen; ein Student erhält weniger als 50€ monatliche Unterstützung vom Staat; Kosten für Wohnheim, Essen, Fahrt und Lernmaterialien müssen weitgehend selbst getragen werden.

In gewisser Weise tun die Migrierenden also das, was hierzulande der Sozialstaat übernimmt: sie sichern Gesundheitsversorgung, Bildung und eine Grundversorgung ihrer Familien.

Andererseits bestätigte sich in den Interviews zum Teil auch die These des Südosteuropaexperten Mappes-Niediek, dass nicht die Ärmsten gehen, sondern die Bessergestellten, Gutausgebildeten und Aufstiegsorientierten. Arbeitsmigranten und -migrantinnen gehören oft der mittleren und höheren Schicht Rumäniens an. Prominentestes Beispiel sind die rumänischen Ärzte, die in Großbritannien oder Deutschland etwa das Zehnfache ihres rumänischen Gehaltes verdienten, wie Mappes-Niediek sagt. Gerade die Gegenkampagne zum CSU-Vorstoß, Maßnahmen zur Begrenzung der sogenannten "Armutszuwanderung" zu prüfen, wird von vielen Rumäniennen und Rumänen unterstützt, die hierzulande als Ärzte arbeiten und die sich durch die medialen Pauschal-Verurteilungen aller rumänischen Zuwanderer diskreditiert fühlten. Rumänien sei mittlerweile das Land mit der geringsten Ärztedichte Europas, weiß Mappes-Niediek.

Wie gestaltet sich das Leben der Kinder und Jugendlichen, deren Eltern sich temporär im Ausland aufhalten? Zunächst einmal ist hier festzustellen, das dieses Phänomen in der rumänischen Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik seit einigen Jahren verstärkt wahrgenommen wird. Ein Regierungserlass von 2006 legt fest, dass Kinder aus migrantischen Familien in regelmäßigen Abständen behördlich erfasst werden müssen. Dies übernehmen in der Praxis die Schulen, indem sie pro Quartal Listen mit den betroffenen Kindern an die Sozialassistenz-Direktion des Landkreises weiterleiten.

Von Staats wegen gibt es Ansätze, die Situation von Kindern aus Familien mit migrierten Eltern(teilen) zu verbessern. Jedoch zeigen viele, die ins Ausland gehen und Kinder zurücklassen, dies nicht bei den Behörden an, erfahre ich von zwei Interviewpartnern. Die Versorgung und Pflege der Kinder wird informell geregelt; Vertrauen haben viele Dorohoier eher in ihre Verwandten als in den Staat. Dies kann dazu führen, dass soziale Hilfe, die für Kinder aus transnationalen Familien gedacht ist, diese nicht erreicht.

Eine Form dieser sozialen Hilfe stellt auch das Tageszentrum "Jurjac" in Dorohoi dar. Dort erhalten Kinder, deren Lebenssituation als risikohaft eingeschätzt wird, Hausaufgabenhilfe, Mahlzeiten und Freizeitangebote. Auch Kinder mit Eltern im Ausland sind dabei. Landesweit plane die Regierung 200 derartige Einrichtungen, erfahre ich im Tageszentrum.

Im Gespräch mit einem Schulpsychologen erfahre ich von den "emotionalen Frustrationen", die Kinder mit abwesenden Eltern erleben. Der Wechsel von Trennung und Wiedersehen, von Kontakt und Nicht-Kontakt stellt für Kinder eine psychische Belastung dar. Je jünger sie sind, desto weniger ist ihnen die Lage verständlich zu machen und desto schwerer können sie mit der Situation umgehen. In seiner Praxis beobachtet der Schulpsychologe Entwicklungsverzögerungen im sprachlichen, kognitiven und emotionalen Bereich. Wichtig ist ihm und auch einer befragten Soziologin, dass jedes Kind einzeln betrachtet wird und seine individuellen Ressourcen und Schwierigkeiten Berücksichtigung finden.

Obwohl ihre Eltern teilweise tausende Kilometer entfernt sind, haben viele Jugendliche in Dorohoi mehrmals in der Woche Kontakt zu ihnen; manche täglich. "Wenn Sie in Häuser kommen, wo die Eltern ins Ausland gegangen sind, werden Sie überall Computer mit Video-Kamera und installiertem Skype finden, weil das das Getrenntsein wirklich erleichtert", sagt mir ein Gesprächspartner. Dennoch verändert sich die Eltern-Kind-Beziehung. Häufiges Thema bei Ferngesprächen sind die schulischen Leistungen. Was trotz unmittelbarer Kommunikation aber nicht möglich wird, ist körperliche Zuwendung - jene Zuwendung, die Kinder je jünger sie sind, desto intensiver brauchen. Circa die Hälfte der Dorohoier Kinder mit migrierten Eltern sind im Grundschulalter oder jünger.

Insgesamt ist die Arbeitsmigration von Rumäninnen und Rumänen nach Westeuropa mit Chancen und Risiken verbunden. Die Gründe sind individuell verschieden, hängen aber mit den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre eng zusammen. Menschen gehen aus Rumänien weg - nicht obwohl sie Familie haben, sondern weil sie Familie haben. Die Arbeitsmigration der Mittelschicht ist eine Strategie geworden, sich und den Nachkommen einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen. Sie ist mit vielen emotionalen Entbehrungen verbunden und die längerfristigen Folgen für die rumänische Gesellschaft wie für die Einzelnen werden sich wohl erst in den kommenden Jahren zeigen.

Dem Artikel liegt ein zweiwöchiger Forschungsaufenthalt in Dorohoi im Jahr 2013 zugrunde. Dabei sind Interviews geführt worden, auf die hier auch zurückgegriffen wurde.
Der Artikel ist eine Kurzfassung des kürzlich im Diplomica-Verlag erschienenen Buches "Transnationale Familien Rumäniens".

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