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Rostock-Lichtenhagen 3o Jahre nach dem Pogrom sprechen rumänische Roma erstmals über die Ereignisse. Am 24. August 2022 wurden die Interviews einem breiten Publikum gezeigt. Das Motto: "Erinnern heißt verändern!"

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Mit rumänischem Namen wohnt niemand mehr im „Sonnenblumenhaus“, schon gar nicht in Nummer 18
Mit rumänischem Namen wohnt niemand mehr im „Sonnenblumenhaus“, schon gar nicht in Nummer 18

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Auf der Wiese hinterm Sonnenblumenhaus blühen die letzten Sonnenblumen. Am tiefblauen Mittagshimmel ist keine Wolke zu sehen. Spaziergänger, Schulkinder. Ein stark tätowierter Mann mit kurz geschorenen Haaren und einem grünen T-Shirt mit der Aufschrift „Polizei“ führt seinen Hund aus, einen Rüden, der in der Mitte der verdorrten Wiese einen Haufen hinterlassen wird. Ein junger Mann in Warnweste sammelt im Gebüsch liegende e-Roller ein. Die Leute ließen die Dinger überall, beschwert er sich auf Englisch mit indischem Akzent. Am schlimmsten sei es, wenn sie sie in ihre Wohnungen mitnehmen. Was hier vor 30 Jahren passiert sein soll, kann er nicht so recht glauben; er wünscht einen schönen Tag und huscht davon.

Das Haus ist schon von Weitem zu sehen, ein Sonnenblumenmosaik ziert eine ganze Seitenwand. Es liegt zwischen den Hafenstädten Warnemünde und Rostock, unmittelbar an der B 103 und der S-Bahn-Station Rostock-Lichtenhagen, die man über eine Fußgängerbrücke erreicht. Google gibt das Haus als „Sehenswürdigkeit“ aus. Eine Trabantenstadt, eine Plattenbausiedlung, frühere „Arbeiterschließfächer“. Die Parkanlage ums Haus ist gepflegt, der Rasen hinterm Haus wird gerade gemäht. Balkone an der Südseite, die Eingänge gen Norden, viele davon barrierefrei. Fast könnte die „Platte“ als modernes Hochhaus bezeichnet werden. Elf Stockwerke, sieben Eingänge, hunderte von Wohnungen. Die Bewohnerschaft ist gemischt, die Namen an den Klingelschildern überwiegend deutsch. In der Nummer 19, dem ehemaligen Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter, wohnt noch eine Familie mit vietnamesischem Namen.

Mit rumänischem Namen wohnt niemand mehr im Haus, schon gar nicht in Nummer 18. Dort, hinter den Sonnenblumen, war Anfang der 1990er Jahre die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) des Landes Mecklenburg-Vorpommern eingerichtet. Alle hätten sie Rostock verlassen, sagen rumänische Roma, die damals Ziel der rassistischen Ausschreitungen in Lichtenhagen wurden, heute. Der Geschäftsmann Daniel Dumitru, der im südrumänischen Craiova lebt, berichtet, wie sie von ihren Landsleuten – Rumänen und Roma – per Auto weggebracht worden seien. Hals über Kopf, bis zu zehn Menschen in einem PKW. Manche seien in andere Unterkünfte gekommen (die nannten sie „Camps“) - manche hätten Deutschland verlassen. Hauptsache weg aus Lichtenhagen.

Doch auch an den neuen Orten in der BRD gingen die Anschläge weiter. Romeo Tiberiade, der den Flammen in Lichtenhagen mit seiner Familie in Bettdecken gehüllt entkam, sei in eine Gemeinde ca. 100 km entfernt von Rostock verlegt worden. Er sei damals als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, um seiner Familie eine bessere Zukunft bieten zu können. Er spricht von politischem Asyl. Wichtig waren ihm Bildung, Fleiß und Sauberkeit. Dafür verwendet er das rumänische Adjektiv „civilizat“ - zivilisiert. Obwohl sie sich assimiliert und gut in die deutschen Strukturen eingefügt hätten – er sei eine Art Hausverwalter der Pension geworden – hätten sie die Bundesrepublik nach einem Jahr endgültig verlassen. Die rassistischen Anfeindungen hatten einfach nicht aufgehört. Heute ist er Politiker und Berater des Bürgermeisters in Angelegenheiten der Roma-Minderheit.

Der Journalist Jochen Schmidt, der selbst im brennenden Wohnblock war, spricht in seiner Reportage von „politischer Brandstiftung“, von untätigen Behörden, von grassierender Nicht-Zuständigkeit, von Staatsversagen. Davon, dass Politik, Verwaltung und Ordnungshüter wider besseres Wissens nichts unternahmen, oder zu wenig oder zu spät – dass sie jedenfalls so lange die Verantwortung hin und her schoben bis das Fass überlief. Denn der Bürgerzorn war Tage, Wochen, ja Monate vorher schon bekannt gewesen. Besonders richtete er sich gegen die rumänischen Asylbewerber, von denen die meisten Roma waren. Izabela Tiberiade, die Tochter eines Betroffenen, sagt, viele seien Verwandte gewesen und die meisten aus der Gegend um Craiova gekommen.

Seit 1990 war es in Rumänien zu Pogromen gegen die dortige Roma-Bevölkerung gekommen; rund 30 Anschläge wurden es bis 1995. Ungarn und Rumänen zogen brandschatzend und mordend durch die Roma-Siedlungen ihrer Dörfer. Die Bilanz: rund 300 zerstörte Häuser und zehn Tote; eine Situation, wo sich immer mehr Roma nicht mehr sicher fühlten. Denn auch dort blieben Behörden, Polizei und Justiz weitestgehend untätig, wie Human Rights Watch und andere damals beobachteten.

In Rumänien hatte sich nach dem Ende der kommunistischen Diktatur die gesellschaftliche Stimmung verändert und viele Rumänen entwickelten - wieder! - Sympathien für den faschistischen Führer Ion Antonescu († 1946). Er hatte neben den Juden vor allem die Roma nach Transnistrien in den Tod schicken lassen. 1991 wurde für ihn im rumänischen Parlament eine Gedenkminute abgehalten. Gründe, das Land zu verlassen, gab es für die Roma also allemal. Darüber allerdings war in der deutschen Presse nichts zu lesen.

„Wir haben uns aufgemacht Richtung Freiheit“, sagt Romeo Tiberiade im Interview. Deutschland habe man für ein Land gehalten, was die Menschenrechte achte und die besten Zukunftschancen biete.

Erst 30 Jahre später kommen die Betroffenen selbst zu Wort. Die Wenigen, die vor der Kamera sprechen wollen, sind froh darüber, dass sich jemand für Ihr damaliges Schicksal interessiert. Auch wenn es ihnen sichtlich schwer fällt, das Erlebte in Worte zu fassen. „They remember and don't remember“, sagt Izabela Tiberiade. Sie entstammt selbst einer Familie, die 1992 in Rostock Schutz suchte und fast den Tod fand. Sie lebt in Schweden und engagiert sich dort und von dort aus als Menschenrechtsaktivistin. Die Perspektive derjenigen, die in der ZAst untergebracht waren, ist nämlich weitestgehend unbekannt. Selbst in den Familien der Betroffenen werde selten darüber gesprochen. Roma hätten keinen Zugang zu ihrer eigenen Geschichte, meint Tiberiade. Diesen Teil ihrer Geschichte ins Bewusstsein zu rücken, sei überaus schmerzhaft, aber wichtig.

Soziale Bildung Rostock e.V. hat in Kooperation mit dem Roma Center Göttingen e.V. am 24. August 2022 eine Veranstaltung dazu durchgeführt. „Lichtenhagen im Gedächtnis“ - es geht um Gedenken, Aufarbeitung und die Frage, was aus der Geschichte gelernt werden kann, ja: muss. Es wurden drei Interviews mit ZeitzeugInnen gezeigt; manche auf Rumänisch, manche auf rumänischem Romanes. Tiberiade, die das Projekt angeschoben und die Interviews geführt hat, fragt sensibel, ruhig und sehr gezielt und schafft es so, die seltene Perspektive der von antiziganistischer Gewalt Betroffenen zur Geltung zu bringen. Dass das entstandene Video-Material ein wichtiges historisches Dokument ist, ist unzweifelhaft.

Die Reaktionen des deutschen Publikums auf die schmale, junge Romni und ihre filmischen Zeugnisse jedenfalls zeigten: Es gibt Interesse und Bedarf an Aufarbeitung. Über 100 Menschen sind zur Veranstaltung gekommen. Eine junge Frau aus Lichtenhagen, die gegenüber des Sonnenblumenhauses aufgewachsen ist, ist sichtlich bewegt und dankbar, endlich diese Geschichte zum Ort ihrer Kindheit kennengelernt zu haben. Eine Frau, die sich als antifaschistische Aktivistin vorstellt, entschuldigt sich stellvertretend bei Tiberiade: „Es tut mir so leid, dass wir euch damals nicht geholfen haben“.

Rostock-Lichtenhagen ist vielleicht das größte Pogrom in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Allerdings längst nicht das einzige. Und die Geschehnisse im August 1992 müssen im Kontext der bundesdeutschen Asyldebatte und des damals – wie heute – weit verbreiteten Antiziganismus betrachtet werden. Schon 1990 etwa titelte der Spiegel: „Alle hassen die Zigeuner“. Und was als kritische Berichterstattung gemeint gewesen sein mag, entpuppte sich als zutreffende Beschreibung, ja als Motto der nächsten Jahre. Rostock-Lichtenhagen war also eher der tragische Höhepunkt einer unsäglichen Debatte darüber, ob rumänische Roma politisches Asyl in der Bundesrepublik erhalten sollten oder nicht.

Und die Antwort folgte promt: „Die rumänischen Behörden werden rumänische Staatsangehörige, die sich illegal auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten […] ohne besondere Formalitäten übernehmen [...]“, heißt es im Artikel 2 des deutsch-rumänischen Rückübernahmeabkommens. Diese Vereinbarung zwischen dem deutschen und dem rumänischen Innenministerium wurde nur einen Monat nach dem Rostocker Pogrom unterzeichnet. Im Wesentlichen zielte sie – obwohl reziprok formuliert – auf illegal nach Deutschland eingereiste rumänische Roma ab. Diese konnten nun im Schnellverfahren zurück geschickt werden – ohne überhaupt einen Asylantrag stellen zu können.

Zwischen November 1992 und Januar 1993 wurden auf diese Weise 3.410 rumänische Staatsangehörige abgeschoben, wie die damalige Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünenfraktion mitteilte. Und nein, das Rückübernahme-Abkommen bezwecke „nicht eine unbürokratische Zurückweisung von Ausländern an der Grenze, sondern eine geordnete Repatriierung in den Heimatstaat“, stellte die Bundesregierung im Februar 1993 auf eine Anfrage der PDS-Fraktion hin fest.

Was denn aus den anderen überwiegend rumänischen BewohnerInnen der ZAst nach ihrer Evakuierung geworden sei, wird Izabela Tiberiade gefragt. Immerhin waren das ja über einhundert Personen. Die seien nach Rumänien abgeschoben worden, ist ihre knappe Antwort. Über ihren weiteren Lebensweg ist nichts bekannt. Noch nicht.

Zum Weiterlesen:
Schmidt, Jochen (2002): Politische Brandstiftung. Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging. Berlin: Edition Ost.

Infos zu "Lichtenhagen im Gedächtnis":
https://lichtenhagen-1992.de/

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