Zehn Jahre im Club

EU-Mitgliedschaft Rumänien zwischen Brain Drain, EU-Fonds, Investitionen, Bürgerprotesten und Korruption. Was ist geblieben von den EU-Hoffnungen Rumäniens? Eine Diskussion in Berlin

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In der Hauptstadt Bukarest treffen Modernisierung und EU-Skepsis aufeinander
In der Hauptstadt Bukarest treffen Modernisierung und EU-Skepsis aufeinander

Foto: DANIEL MIHAILESCU/AFP/Getty Images

Nach der Wende von 1990 hatte sich das Land auf den Weg gemacht. „Zurück nach Europa“ – wie es die gebildeten Schichten dort sehen. Die Annäherung an die Europäische Staatengemeinschaft hängt eng mit der deutsch-rumänischen Beziehung der frühen 90er Jahre zusammen. Die Außenminister der beiden Länder, Năstase und Genscher, unterzeichneten 1992 den sog. „Vertrag über Freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien“.

In Artikel 9 dieses Vertrages heißt es: „Die Vertragsparteien messen dem Ziel der Europäischen Einheit auf der Grundlage der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit höchste Bedeutung bei und werden sich für die Erreichung dieser Einheit einsetzen“ (Absatz 1). Zur Rolle Deutschlands heißt es: „Die Bundesrepublik […] unterstützt Bemühungen, die Grundlagen für eine weitere wirtschaftliche und politische Heranführung Rumäniens an die Europäische Gemeinschaft, insbesondere durch den Abschluß eines Assoziierungsabkommens, zu schaffen“ (Absatz 4).

Bereits im Februar 1993 nimmt die Europäische Gemeinschaft Rumänien als assoziiertes Mitglied auf. Im Oktober des gleichen Jahres wird Rumänien Vollmitglied des Europarates.

Der Weg in die EU ist für das südosteuropäische Land steinig. Anfang der 90er Jahre erschüttern pogromartige Ausschreitungen gegen Roma das Land, in Siebenbürgen entflammt der rumänisch-ungarische Konflikt. Über 100.000 rumänische Staatsangehörige stellen 1992 einen Antrag auf Asyl in Deutschland. Gleichzeitig werden Gesetzesreformen auf den Weg gebracht, die Schrift reformiert und 2003 die Verfassung revidiert. Die Wirtschaft wächst.

Eigentlich hätten Rumänien und Bulgarien schon 2004 der EU beitreten sollen, erläuterte der Bundestagsabgeordnete Gunther Krichbaum kürzlich in Berlin. Auf Einladung der Deutsch-Rumänischen Gesellschaft sprach er mit dem Europa-Parlamentarier Siegfried Mureșan und dem Südosteuropa-Kenner Keno Verseck über die EU-Mitgliedschaft Rumäniens. 2004 sei das Land aus Sicht der EU noch nicht reif für den Beitritt, die „Rückstände“ zu groß gewesen.

Der ebenfalls anwesende Botschafter Rumäniens in Deutschland, Emil Hurezeanu, nannte den EU-Beitritt in seiner Begrüßungsrede ein „nationales Projekt Rumäniens“. In einer umfassenden Betrachtung ging er darauf ein, welchen Gewinn die EU für Rumänien bringe, wie etwa die Modernisierung der Gesellschaft und die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage. Zwar erwähnte er auch die Abwanderung rumänischer Fachkräfte, hob aber mehr ihren Beitrag zum „Wohlstand der europäischen Partner“ als die daraus erwachsenden Fragen für die rumänische Gesellschaft hervor. Die Politik versuche, darauf zu reagieren. Angesichts europaweiter Europa-Skepsis bekräftigte er: „Rumänien ist fest entschlossen, ein starkes EU-Mitglied zu sein“.

Die Frage, ob und zu welchem Zeitpunkt Rumänien „reif“ für den EU-Beitritt gewesen ist, ist eine sehr aktuelle. Spätestens seit 2013 wird mit dem Phänomen der sog. „Armutswanderung“ von Rumänien nach Deutschland sichtbar, dass trotz EU-Mitgliedschaft die sozialen Absicherungen in dem Land dermaßen niedrig sind, dass selbst der ausschließliche Bezug von deutschem Kindergeld alle Einkünfte in den Schatten stellt, die die entsprechenden Personen in Rumänien je haben könnten. Die Kluft zwischen den wirtschaftlichen Systemen könnte größer nicht sein. Trotz oder wegen des EU-Beitritts – das ist hier die Frage.

Denn einerseits profitiert das Land von europäischen Struktur- und Kohäsionsfonds, damit die Verhältnisse dort langsam denen im „Westen“ angepasst werden. Andererseits fielen Firmen aus Österreich und Deutschland, aber auch aus Kanada und den USA, wie die Heuschrecken über das Land her – und tun es noch immer.

Natürlich können die Konservativen Krichbaum und Mureșan auf dem Podium nicht anders als die Richtigkeit des EU-Beitritts Rumäniens zu betonen. "Die Länder [Rumänien und Bulgarien, JV] waren damals noch nicht aufnahmebereit. Und trotzdem war es richtig", so Krichbaum.

Die Abwanderung – Symptom zahlreicher gesellschaftlicher Schieflagen – wird kleingeredet. Mureșan etwa meint, Mobilität innerhalb der EU – das habe man sich immer gewünscht. Und wenn die Rahmenbedingungen stimmten, würden „viele“ Rumänen wieder zurückkommen. Ein Wunschtraum, denn wann stimmen die Rahmenbedingungen?

Seit 2007 berichtet die Europäische Kommission jährlich über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (CVM). Denn das Land muss weiter an der Verbesserung des Rechtssystems arbeiten, auch wenn ihm die Kommission im diesjährigen Bericht „major progress towards the CVM benchmarks“ bescheinigt hat.

Rumänien muss europäische Standards erfüllen. Vor allem, damit Investoren ruhig schlafen können. So wie beispielsweise die österreichische Holzfirma Schweighofer, die fernab internationaler Presseberichterstattung klammheimlich die letzten Urwälder Europas abholzt. Oder LIDL, der für Investitionen in Rumänien einen Entwicklungshilfe-Kredit über 67 Mio. Dollar erhielt, wie der Deutschlandfunk im vergangenen Sommer berichtete.

Auch das Beispiel eines Besuchers der Diskussionsveranstaltung im Europäischen Haus in Berlin spricht nicht dafür, dass Rumänien mit dem EU-Beitritt eine faire Chance auf Beteiligung am europäischen Mark erhalten hat. Er kenne Menschen, die für 300€ Monatslohn bei Daimler-Benz im rumänischen Cugir arbeiteten. „Wer profitiert da am meisten?“, fragt er die eingeladenen Politiker. Krichbaums Reaktion ist so symptomatisch wie sie zynisch ist. Er stelle das in Frage. Außerdem handele es sich wahrscheinlich um einfache, ungelernte Jobs. Und in Rumänien gebe es auch „keine klassische Betriebstreue“. Für ihn scheinen 300€ genug zu sein - für einen Rumänen. Auch dass gewerkschaftliche Organisation in diesem und ähnlichen Betrieben deutscher Firmen verboten sind, schockt den Abgeordneten wenig.

Die Bundesregierung versucht, seit dem Anstieg der Zahlen rumänischer Zuwanderer, die eher nicht zum Wirtschaftswachstum hierzulande beitragen, einen Weg zu finden, die Verantwortung zurück an Rumänien zu delegieren. Die Mitgliedschaft des Landes in der EU wird in diesem Diskurs als Argument dafür angesehen, dass die Verhältnisse – wenn auch nicht genauso rosig wie hier – so doch zumindest „europäischen Standards“ entsprächen. Im sog. Unionsbürgerausschlussgesetz, was seit 1.1.2017 in kraft ist, kommt genau dieser Gedanke zum Tragen: die Bundesrepublik übernimmt nicht die Verantwortung für Hilfebedürftige aus Rumänien. So ist die europäische Freizügigkeit dann doch nicht gedacht.

Wie aber sollen die Verhältnisse in einem Land sein, wo schlicht die Mittel fehlen, um die verheißungsvollen EU-Fonds überhaupt anzapfen zu können? Erst ein bis zwei Prozent hat das Land aus den aktuellen Fonds (2014 - 2020) abgerufen. Das Abrufen teuer, die Verfahren zu aufwendig, zu wenig Kontinuität in der Regierung – so die Diagnose Mureșans.

Rumänien habe bei den Beitrittsverhandlungen teils schlecht verhandelt, sagt Keno Verseck auf dem Podium. „Die EU-Osterweiterungm war auch gut für die westliche Wirtschaft.“ Die beratenden Experten kämen aus dem Westen. Die anzuschaffenden Maschinen ebenfalls.

Erschütternd ist nicht so sehr, dass Krichbaum und Mureșan auf ihren neoliberalen Prämissen beharren und in Sachzwang-Logik manche frappierenden Probleme wegdiskutieren. Erschreckend ist, dass sie damit durchkommen. Dass die nicht funktionierende Wettbewerbslogik nicht hinterfragt wird, sondern vielmehr ein „Weiter-so“ gepredigt wird. Man könne den Wettbewerbsdruck nicht von heute auf morgen wegbekommen, entschuldigt sich Krichbaum. Und fügt hinzu: „Es wird unterschätzt, was es heißt, Mitglied dieses Clubs zu sein“.

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