„Der Patient möchte nichts kaufen“

Medizin Der Medizinethiker Giovanni Maio sieht tiefgreifende Missstände im deutschen Gesundheitswesen

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Prof. Maio, in Ihrem aktuellen Buch Den kranken Menschen verstehen sprechen Sie sich für eine "Medizin der Zuwendung" aus. Was meinen Sie damit?

Mit meinem Buch möchte ich verdeutlichen, dass man nur dann kranken Menschen helfen kann, wenn der Patient sich von seinen Ärzten ernst genommen und verstanden fühlt. Ich gehe in meinem Buch anhand konkreter Beispiele darauf ein, wie wichtig die Zuwendung zum Patienten ist, weil ich damit die Ärzte für den Aspekt der Beziehung sensibilisieren möchte.

Also fehlt eine solche Zuwendung in der aktuellen Medizin?Nun, die Ärzte lernen, den Patienten zu verobjektivieren; sie kennen sich zwar sehr gut aus in der Erhebung naturwissenschaftlicher Befunde, aber verlernen immer mehr, sich in die Lage des Patienten hineinzuversetzen. Ich möchte mit dem Buch erreichen, dass der Wert der Empathie, der Wert des Vertrauens und vor allem der Wert des Zuhörens wieder ins Bewusstsein tritt.

Zur Person

Giovanni Maio wurde 1964 in der Stadt San Fele in der italienischen Provinz Potenza geboren. Maio studierte Medizin und Philosophie in Freiburg, Hagen und Straßburg. Nach der Erlangung des Doktorgrades bildete sich Maio zum Facharzt für Innere Medizin weiter. 2005 nahm Maio einen Ruf der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg auf die Universitätsprofessur für Bioethik/Medizinethik an. Er ist Berater der Bundesärztekammer und der Deutschen Bischofskonferenz. Einem breiten Publikum wurde er durch seine Sachbücher zu medizinisch-ethisch Fragen bekannt, zuletzt Geschäftsmodell Gesundheit - Wie der Markt die Heilkunst abschafft (Suhrkamp, 2014). Sein neuestes Buch Den kranken Menschen verstehen – für eine Medizin der Zuwendung erscheint am 8. September 2015. Maio arbeitet und lebt in Freiburg.

Aber ist diese... sagen wir: Hemmung der Empathie vielleicht nicht auch ein Stück weit notwendig? Schließlich werden Ärzte tagtäglich auch mit Patienten konfrontiert, denen sie nicht helfen können.
Es geht eben nicht darum, sich die Gefühle des kranken Menschen zu eigen zu machen, sondern sie einbetten zu können in einen größeren Kontext der gesamten Patientengeschichte. Das ist das, was ich mit einfühlendem Verstehen meine. Wer nur mitfühlt, wird am Ende auch zu wenig verstehen – wir brauchen eine Balance zwischen Empathie und Weitsicht.

Sie sagen, dass die Ärzte lernen würden, den Patienten zu verobjektivierenWorauf führen Sie das zurück?
Das größte Problem der modernen Medizin ist die Fehlentscheidung der Politik, die gesamte Medizin nach Kriterien zu bewerten, die der Ökonomie entlehnt sind. Das ist sehr verhängnisvoll, weil das den sozialen Charakter der Medizin immer weiter aushöhlt. Das muss unbedingt gestoppt werden, und es muss deutlich werden, dass Medizin dafür da ist, hilfsbedürftigen Menschen durch eine professionelle aber zugleich menschliche Beziehung aus der Not herauszuhelfen.

Nun haben Ärzte aber natürlich auch ein berechtigtes Interesse daran, mit ihrer Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Ja, aber die Medizin hat mit einem Wirtschaftsunternehmen nichts zu tun: Der Patient sucht keine Geschäftsbeziehung, sondern eine Sorgebeziehung. Er möchte nichts kaufen, sondern er möchte in der Medizin jemanden finden, der sich seines Problems annimmt und sowohl fachmännisch, wie auch menschlich hilft.

Menschlichkeit lässt sich aber nur schwer messen.
Das ist eines der Probleme: Wir leben in einer Zeit, in der man sehr einseitig auf messbare Werte setzt. Alles, was nicht messbar ist, wird nicht gefördert. Das ist für den Umgang mit kranken Menschen grundlegend falsch. Aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft müssen wir anerkennen, dass es nicht messbare Werte gibt, die man fördern muss, zum Beispiel Einfühlungsvermögen, Zuhörbereitschaft, Geduld, Fingerspitzengefühl.

Also betrifft dieser Mangel nicht nur die Medizin?
Nein. Diese Fähigkeiten zählen in unserer Zeit alle nicht, weil man sie nicht messen und nicht überprüfen kann. Dabei sind sie überall dort, wo wir mit Menschen zu tun haben, die zentralen!

Haben Sie das selbst in Ihrer Studienzeit erlebt?
Ich habe mich für Medizinethik habilitiert, weil ich mich für den kranken Menschen, für seine existenzielle Not interessiere. In meinem ersten Studium, dem Medizinstudium, fand ich die Frage nach der Not des Menschen, überhaupt die Frage nach dem Menschen gar nicht gestellt. Mir wurde beigebracht, einfach Enzyme und Chemiewerte auswendig zu lernen. Das hat mich dazu angestachelt, der Medizin näher auf den Grund zu gehen, und heute versuche ich, das philosophische Denken wieder in die Medizin zurückzutragen.

Wie kann man sich das vorstellen?
Es war ja früher üblich, dass man in den ersten Jahren des Medizinstudiums erst Philosophie belegen musste; man musste ein sogenanntes tentamen philosophicum ablegen; im 19. Jahrhundert wurde dies durch dann das tentamen physicum ersetzt. Das ist eine Fehlentscheidung gewesen, und heute haben wir genau deswegen die Ärzte, die wir so einseitig ausbilden.

Zeigt sich diese ökonomische Sichtweise, von der Sie sprachen, auch auf den Umgang mit behinderten Menschen aus?
Wir leben in einer Gesellschaft, die durch und durch ökonomistisch geprägt ist, ohne dass wir uns klarmachen; das gilt auch im Umgang mit menschlichem Leben. Gerade den schwangeren Frauen wird durch das gesellschaftliche Klima suggeriert, dass sie es der Gesellschaft schuldig sind, alle Vorsorgeuntersuchungen ja in Anspruch zu nehmen und ein Kind mit Behinderungen zu „verhindern“; wenn eine Schwangere bedingungslos ja zu ihrem ungeborenen Kind sagt, wird das im Grunde heutzutage nicht toleriert, weil wir in einem Klima leben, in dem nur das produktive Leben als ein wertvolles Leben angesehen wird, und den schwangeren wird auferlegt, das unproduktive Leben zu verhindern, ohne dass man sich klarmacht, dass es kein Verhindern, sondern ein "Aus-dem-Weg-räumen" ist.

Letztlich liegt die Entscheidung doch bei den Eltern?
Ja, bedenklich ist aber, dass viele schwangere Frauen diese soziale Erwartung an sie so weit verinnerlichen, dass sie sich nicht trauen, eine Entscheidung zu fällen, die wirklich ihren eigenen Werten entspricht.

Übt die Gesellschaft also Druck auf Schwangere mit behinderten Kindern aus?
Wir haben einen kollektiven Konsens, der dahin geht, gerade das ungeborene Leben – aber auch das gebrechliche Leben am Lebensende - wie eine Aktie zu behandeln, bei der man jeden Tag den Aktienwert neu berechnet, um zu entscheiden, ob es vernünftiger ist, weiter darin zu investieren oder man die Aktie lieber abstößt, wenn sie kein produktives Leben mehr verspricht. Das Problem ist, dass so getan wird, als sei es unvernünftig, das Leben mit Behinderungen oder das gebrechliche Leben als Wert an sich zu betrachten. Daher brauchen wir hier dringend ein Umdenken und eine Aufkündigung einer solchen Kolonialisierung der Lebenswelten durch die Ökonomie, wie wir es gerade erleben.

Viele Menschen sehen eine zunehmende Pathologisierung als „anormal“ empfundener Geistes- oder Körperzustände.
Ja, Das ist eine berechtigte Kritik. Wir leben in einer Zeit des absoluten Konformitätsdrucks; alle müssen leistungsfähig sein und produktiv und fit für das gesellschaftliche Funktionieren. Wer aus diesem Raster rausfällt, wird als behandlungsbedürftig angesehen, weil wir intolerant geworden sind. Wir müssten viel mehr darauf abheben, dass der Mensch mit Behinderungen als Ausdruck der Vielfalt normalen Lebens auf unserer Welt zu sehen ist. Er ist nicht jenseits des „Normalen“; sondern er ist auf seine Weise normal, weil er genauso einzigartig ist wie jeder andere; wir müssen diese Einzigartigkeit nur entdecken wollen und den Menschen mit Behinderungen einfach einem Stereotyp unterordnen. Das ist leider der gängigste Umgang, dass wir den Menschen mit Behinderungen schlichtweg reduzieren auf den Aspekt seiner Behinderung, aber wir verkennen, dass er einen eigenen Charakter hat, der jenseits des Aspekts der Behinderung stärker seine Identität ausmacht als die Behinderung, auf die wir ihn illegitimerweise reduzieren.

Aber wie kann man das ändern?
Im Grunde fehlt das Interesse unserer Gesellschaft, Menschen mit Behinderungen tatsächlich als Menschen kennenlernen zu wollen. Ich versuche, meine Studierenden neugierig darauf zu machen, Menschen mit Behinderungen neu zu entdecken – und dann wird man sie sofort als Wesensverwandte erkennen können.

Wir sollten im Umgang mit dem Menschen schlichtweg zu einer neuen Demut gelangen, in der Weise, dass wir nicht danach trachten brauchen, den Menschen zu verändern, zu optimieren, ihn nach unseren Wünschen zu manipulieren, weil jeder Mensch schon von sich aus vollkommen ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

Jan Rebuschat

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