"Deutschland, bitte vergiss mich nicht"

Interview Die Filmemacherin Canan Turan über ihr Filmprojekt "Kaya - Der Felsen und das Meer", in dem es um Familie, dem Streben nach persönlicher Freiheit und Zugehörigkeit geht

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Canan Turan
Canan Turan

Foto: privat

Frau Turan, worum geht es in Ihrem Film „Kaya - der Felsen und das Meer“?
Es geht zum einen um die persönliche Beziehung zwischen meinem Vater und mir, zum anderen aber auch um die Geschichte meiner Familie, weg von der Unterdrückung und hin zur Verwirklichung persönlicher Freiheit.

Ihre Familie stammt ursprünglich aus der Türkei.
Richtig. Ich blicke mit „Kaya - der Felsen und das Meer“ auf meine Familie, aber biographisch und nicht aus kulturalistischer Sicht.

Wie meinen Sie das?

Gern werden solche Darstellungen ja stereotypisiert: „Das ist die Geschichte einer türkischen Familie in Deutschland“ oder „Die Geschichte einer Deutsch-Türkin und ihrem Vater“. Aber ich denke, dass ich in meinem Film Themen anspreche, mit denen sich auch Leute außerhalb der migrantischen Communities identifizieren können. Ich glaube insbesondere nicht, dass Menschen fremdgesteuert nach ihrer Kultur handeln. Auch wenn mein Vater früher gern selbst so argumentiert hat.

Inwiefern?
Mein Vater hat damals immer gern behauptet: „Du darfst jetzt das und das nicht, weil du Türkin bist.“ Aber das stimmte natürlich nicht: Ich habe selbst in meiner Jugend gesehen, dass es anders ging. So hatte ich türkische, kurdische und arabische Freundinnen, die mehr durften als ich damals. In meinem Film stelle ich deshalb auch die Frage: „Wie ist mein Vater so geworden, wie er war?“.

Wie haben Sie damals darauf reagiert?
Ich war natürlich sauer und habe wie jeder Teenager in so einer Situation reagiert. Kurz nach meinem Abitur bin ich auch von zu Hause ausgezogen. Aber im Laufe der Zeit habe ich Verständnis für meinen Vater entwickelt: Er wurde durch seine Erfahrungen mit seinem Vater einfach so stark geprägt, dass es ihm schwer fiel, aus seiner „Rolle“ auszubrechen.

http://36.media.tumblr.com/876b5bc90c31261bf6467717c8fdf227/tumblr_nso0yrweU51rhj3jqo1_500.jpgFoto: Canan Turan


Welche Erfahrungen waren das?
Mein Vater war sehr durch die Alkoholabhängigkeit und die Gewalttätigkeit seines Vaters geprägt, seine Kindheit war schwer für ihn. Er stand deshalb allem, was von außen an die Familie herankam, grundsätzlich skeptisch gegenüber.

Von Außen?
Ja, Sachen wie Ausgehen, Leute kennenlernen, in die Kneipe gehen - alles, was sich außerhalb der Familie abspielt. Er sagte mir beispielsweise immer: „Mir geht es nicht darum, was du da draußen tust, sondern was man dir da draußen antun kann!“. Die Bedürfnisse seiner Familie standen immer vor ihm im Vordergrund und es fiel ihm sehr schwer, seinen eigenen Bedürfnissen nachzugehen - das empfand er als Egoismus. In meinem Film geht es um diesen Konflikt, um das Streben nach persönlicher Freiheit und die Bedürfnisse anderer Menschen.

Welche Rolle spielt die Herkunft Ihrer Familie in dem Film?
Mir geht es um die Geschichte meiner Familie, ich erhebe jetzt nicht den Anspruch, alle Deutsch-Türk_innen oder Migrant_innen zu repräsentieren. Aber natürlich spielen die Erfahrungen mit Diskriminierung, die wir gemacht haben, auch eine Rolle.

Was waren das für Erfahrungen?
Eine Vielzahl von Erfahrungen im Alltag. Oft wird einem das Gefühl der Andersartigkeit vermittelt, man wird als „türkische Migrantin“ typisiert und es spielt keine Rolle, dass man Zeit seines Lebens in Deutschland gelebt hat. Meine Großeltern sind nach Deutschland gekommen, da meinem Großvater aus politischen Gründen die Arbeit als Lehrer verboten wurde und ihm eine Gefängnisstrafe drohte. Als mein Vater als Kind nach Deutschland kam, wurde er in eine reine Schulklasse mit türkischen Kindern gesteckt. Ihm wurde das Gefühl der Zugehörigkeit verwehrt. Und das kenne ich leider auch.

Wie hat sich das in Ihrem Alltag denn gezeigt?
Bei mir fing es schon vor der Geburt an: Nach der Hochzeit meiner Eltern hat meine Mutter zunächst keinen Aufenthaltstitel erhalten und musste Deutschland hochschwanger verlassen, weshalb ich auch in der Türkei geboren wurde. In der Schule wurde mir ständig gesagt: „Canan, also du bist wirklich eine Ausnahme - wie gut Deutsch du als Türkin sprichst!“ So etwas passiert oft. Nicht, dass es nicht tatsächlich Probleme gibt: Natürlich gibt es Menschen mit Migrationsbiographien, die nicht gut Deutsch sprechen. Aber das liegt meist daran, dass sie aus ärmeren Schichten kommen und nicht denselben Zugang zu Bildung genossen haben. Genauso gibt es weiße Deutsche, die nicht gut Deutsch reden. Gerade nach dem Mauerfall habe ich eine starke Zunahme der Diskriminierung in Berlin gespürt: Plötzlich gab es im Böcklerpark, in dem wir gerne waren, Schmierereien wie: „Grill-Türken raus!“ Aber auch in der heutigen Zeit spürt man das noch: Die NSU-Morde, die als „Döner-Morde“ bezeichnet wurden.

In der Beschreibung Ihres Films sprechen Sie auch eine stereotype Darstellung von Migranten in den Medien an. Wie zeigt sich das?
Nun, oft wird kulturalistisch argumentiert, zum Beispiel wenn es um Ehrenmorde geht: „Die türkischen Familien sind eben so, das ist ihr kultureller Hintergrund!“ Als ob es eine Charaktereigenschaft wäre, die sich aufgrund der Herkunft automatisch ergeben müsste. Türkische Männer werden meist als aggressive Unterdrücker dargestellt, türkische Frauen als Opfer ihrer Väter, Brüder und Ehemänner, die man beschützen müsste. Das passiert leider auch in manchen feministischen Kreisen: „Wir wollen die muslimischen Frauen befreien!“ Das ist eine Viktimisierung und suggeriert, dass die Hilfe von Außen nötig sei.

Gibt es denn auch positive Beispiele?
Gelungene Darstellungen aus der Innenperspektive sind in meinen Augen zum Beispiel die Filme von Fatih Akın und auch der Film „Almanya - Willkommen in Deutschland“ von Yasemin und Nesrin Şamdereli.

Glauben Sie, dass Rechtsextremismus zugenommen hat?
Einerseits, andererseits.
Einerseits gibt es in bestimmten Kreisen eine wachsende Aufnahme von Menschen mit Migrationshintergrund in dem Sinne: „Ihr gehört zu uns, lasst uns gemeinsam etwas auf die Beine stellen.“. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass die Migrant_innen sich aktiv einen eigenen Platz in der Gesellschaft geschaffen, ja erkämpft haben. Wie meine Großmutter, die sich in Deutschland aktiv für Arbeiterrechte eingesetzt hat. Viele Deutsche ohne Migrationshintergrund reflektieren ihre Positionen gegenüber Migrant_innen und es gibt ein größeres Interesse an unseren familiären Biographien. Aber andererseits gibt es viele Menschen, die immer radikaler zu werden scheinen. Das zeigt sich ja beispielsweise bei NSU, PEGIDA, die Flüchtlingspolitik und jetzt aktuell in Freital.

Sind Sie deshalb nach Barcelona gezogen?
Es war nicht der Hauptgrund, aber hat bei meiner Entscheidung tatsächlich eine Rolle gespielt. Hier in Barcelona ist diese Stereotypisierung als „türkische Migrantin“ weggefallen und ich habe das sofort gespürt: Ich konnte einfach durchatmen und den Kopf frei haben.

Hat Ihnen das bei der Konzeption Ihres Films geholfen?
Ja. Ich habe die Gelegenheit genutzt, um meine familiäre Biographie zu reflektieren. Distanz schafft auch Nähe.

Welche Herangehensweise verfolgen Sie?
Aktuell sind wir noch im Recherche-Dreh. Der Film wird aus dokumentarischen Gesprächsszenen mit meinem Vater bestehen, aber es soll auch assoziative, inszenierte Aufnahmen geben. Ich möchte nicht nur sprachlich, sondern auch mit den Bildern kommunizieren, was Zugehörigkeit und persönliche Freiheit für mich und meinen Vater bedeuten.

Wie sind die bisherigen Reaktionen auf Ihr Projekt?
Wir haben bisher viel positive Resonanz bekommen. Ich glaube, dass viel Interesse an der dezidiert biographischen Darstellung besteht. Der Film zeigt eine andere Form der Geschichtserzählung, fernab der Klischees der Mainstream-Medien.

Der Trailer hat sehr intensive Bilder. Haben Sie irgendwelche bestimmten Filmproduzenten und Regisseure zum Vorbild?
Das ist schwer zu beantworten. In meiner Bildsprache würde ich keine konkrete Person nennen können. Fatih Akins „Gegen die Wand“ ist für mich ein wichtiger Meilenstein: Die Art und Weise, wie er die Gefühle und Sehnsüchte in die Bilder des Filmes kleidet, gefällt mir sehr. Vom erzählerischen Ansatz her hat mich vielleicht Tony Gatlif beeinflusst, der algerisch-französische Regisseur, der seine kulturellen und biographischen Erfahrungen als Roma nutzt, um sehr besondere Geschichten zu erzählen.

Sie sind aktuell noch in der Vorbereitungsphase.
Richtig. Ich habe als erste „Deutsch-Türkin“ ein Gerd Ruge Stipendium von der Film und Medien Stiftung NRW erhalten. Aktuell arbeite ich weiter an einem Art Pilot-Video, den ich mit dem Stipendium begonnen hatte, um hierdurch an Fördermittel zu kommen. Dieser Pilot (in der Dokumentarfilm-Industrie oft auch “Trailer” genannt) soll darstellen, wie der Film in etwa am Ende aussehen wird. Für diesen Piloten bemühen wir uns bei Startnext um Crowdfunding.

Warum crowdfunding?
Weil es eine unkomplizierte Art der Finanzierung ist und sich die Zuschauer_innen direkt involvieren können. So etwas baut eine Community zwischen Filmemacher_innen und Zuschauer_innen auf, was mir sehr gefällt: Man arbeitet quasi gemeinsam an einer Sache.

Hat sich Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater durch die Planung dieses Film geändert?
Ja, auf jeden Fall. Dies ist ein sehr intensiver Prozess für uns. Das war ein Auf und Ab; zuerst hat er sich sehr gefreut, aber zwischendurch überkamen ihn Zweifel, ob er das tatsächlich wollte - schließlich zeigt er sich ja durch den Film vielen Menschen auf eine für ihn ungewohnte, offene Art und Weise. Auch ich hatte zwischendurch überlegt, die Arbeit hinzuschmeißen. Aber wir haben uns dazu entschieden, den Film zu vollenden. Mein Vater ist zu meinem größten Unterstützer geworden.

Zur Person: Canan Turan wurde 1984 in Keşan (Türkei) geboren und wuchs in Berlin auf. Turan studierte Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Universitat Pompeu Fabra Barcelona sowie Screen Documentary am Goldsmiths College in London. Turans Kurzfilm Kıymet wurde auf internationalen Festivals sowie im Kino Moviemento Berlin im Doppelprogramm“ Canım Kreuzberg”gezeigt. Aktuell arbeitet sie an der Entwicklung von „Kaya - Der Felsen und das Meer“, ihr erster langen Dokumentarfilms, gefördert durch ein Gerd Ruge Stipendium der Film und Medien Stiftung NRW. Turan arbeitet und lebt in Barcelona

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

Jan Rebuschat

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