Die große Verschwulung

Gender Mit seinem Lied "Die große Verschwulung (Baby, ich hab Genderwahn!)" reagiert der Mainzer Rapper form (bürgerlich David Häußer) auf Akif Pirinçcis aktuelles Buch

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"Ich lege großen Wert auf die Praxis."
"Ich lege großen Wert auf die Praxis."

Foto: David Bruchmann

Herr Häußer, wie kam es zu Ihrem aktuellen Lied „Die große Verschwulung (Baby, ich hab Genderwahn!)“?

Der Auslöser war eigentlich hauptsächlich, dass mich mein Label Springstoff fragte, ob ich auch was für den aktuellen Sampler "Make Some Noise“, der gleichnamigen Kampagne gegen Sexismus und Homophobie in Rap und Reggae, beitragen wollte. Ich hatte keinen so wirklich passenden Track, also hab ich einen gemacht. Obwohl ich mich sehr stark mit dem Thema auseinandersetze, hatte ich aber noch nie solch einen expliziten Ausdruck davon, weil mir einfach der Anlass fehlte.

Also ergab es sich eher zufällig?

Nein, das Thema treibt mich schon seit meiner Kindheit um und ich habe es schon in etlichen Zeilen meiner früheren Lieder thematisiert. Und da wir uns u.a. bei dem Magazin FICKO sowieso schon seit längerer Zeit mit Pirinçci beschäftigen, lag es nahe, genau ihm ans Bein zu pissen und seine Google-Suchergebnisse zu verseuchen.


Das Thema treibt Sie schon seit Ihrer Kindheit um - warum? Gab es da einen Schlüsselmoment?

Nein, es gab keinen Schlüsselmoment und es hat auch sehr lang gedauert, bis ich gecheckt habe, dass es was mit meiner fehlenden "Männlichkeit" zu tun hat, dass man mich sehr oft erst mal nicht ernstnimmt.

Inwiefern?

Nun, ich bin ein sehr empfindlicher Mensch und das soll man ja gerade "als Mann" nicht sein. Ich bin sehr laut und extrovertiert, mache mich gern über alles und mich selbst lustig, aber prinzipiell nicht ohne mir auch ein, zwei Gedanken zur Welt zu machen. Und geräuschempfindlich bin ich auch trotz meiner Lautstärke. Ich trete aber in der Regel nicht sehr großspurig auf, denke viel nach, gebe mir Mühe, kein Idiot zu sein und versuche Rücksicht zu nehmen. Mich haben schon immer dummschwätzende Arschlöcher angekotzt - und das waren in meinem Leben nunmal sehr oft Männer. Und folgt man mal vielen Statistiken, bin ich da nicht unbedingt die extreme Ausnahme. Irgendwann kam ich auf den Trichter, dass die Erwartungen, die Menschen entlang ihrer Geschlechterrollen zu erfüllen haben, um keine Probleme zu kriegen, sehr oft ganz schön scheiße sind.

Spielen Geschlechterrollen denn tatsächlich überhaupt noch eine Rolle?
Ja,
ich zumindest habe den Eindruck, dass so extrem viele Konflikte und Probleme mit sehr dummen Vorstellungen von Männlichkeit bzw. Zwängen à la "Das darfst du als Frau nicht" zu tun haben.

Wie zeigt sich das?
Es liegt doch einfach auf der Hand: Frauen durften auch hier im angeblich so crazy aufgeklärten Deutschland bis vor 20 Jahren in der Ehe straflos vergewaltigt werden. Ehefrauen brauchten noch bis 1977 die Erlaubnis ihres Ehemanns, um arbeiten zu gehen. Jean Jacques Rousseau und etliche männliche Denker der Aufklärung, die ich prinzipiell nicht für eine falsche Idee halte, waren stellenweise extrem sexistisch, rassistisch, antisemitisch und sonst was.

Ich habe sehr sehr viel von feministischen Diskussionen und auch Shitstorms gelernt. Das war von Anfang an Thema, nur eben nicht so sehr im Vordergrund. Es hat längere Denkprozesse gebraucht, bis ich mich getraut habe, darüber zu reden. Und mir wurde auch schon mehrfach der Kopf gewaschen, wodurch ich z.B. gelernt habe, diese Knöpfe in Zukunft auch ungewollt nicht mehr zu drücken.

Sie nutzen Rap also bewusst als Plattform für Ihre Überzeugungen.
Ich sehe es einfach als meine Aufgabe, einem interessierten Publikum Ideen zu übersetzen und zu verbreiten. Ob nun im Rap oder durch das Magazin FICKO. Denn außerhalb der Szenekreise gibt es halt diese Realität, von der ich sprach. Und da sind die simpelsten Grundannahmen von der Gleichwertigkeit des menschlichen Lebens nicht gegeben. Das muss angegangen werden. Ich lege großen Wert auf die Praxis. Konkrete Situationen, Handlungen, Alltag.

Nun ist der Titel des Liedes natürlich ein direkter Stich gegen Akif Pirinçci. Doch ist Pirinçci nicht eher ein kleiner Fisch in dieser Debatte?

Pirinçci ist einfach ein krasses Würstchen. Von denen laufen sehr viele herum. Pirinçci ist eigentlich egal, genauso wie Sarrazin eigentlich egal ist. Das sind halt hängengebliebene Jammerlappen, die rumschreien und viel Geld verdienen. Das Problem ist, dass sie auf solch eine große Unterstützung stoßen. Wer lädt ihn denn ein in Sendungen? Wer macht die ganzen Vorabdrucke, wer gibt diesen Leuten ein Forum? Wer ist unfähig, mal Haltung zu zeigen? Wer verharmlost und schaut weg, wenn Birgit Kelle erst bei der Jungen Freiheit und dann bei der CDU ihre homophobe Hasspropaganda verspritzt? Das sind ja alles am Ende so viele Probleme auf einmal, die das ziemlich vollständige Versagen der "Mitte" zeigen. Weil halt wie beim Rassismus auch beim Thema Sexismus Deutschland noch auf einem richtig dumm niedrigen Diskussionsniveau ist.

Wie erklären Sie sich, dass diese Aussagen eine solch große Aufmerksamkeit bekommen?

Weil es nicht üblich ist, eine kritische Haltung zu haben. Weil das Niveau von Diskussionen in vielen Medien erschreckend niedrig ist. Wie in der Gesellschaft insgesamt auch. Sei es in der Bildung, im Journalismus oder wo auch immer in dieser Gesellschaft mit andauerndem Verkaufs- und Wachstumsdruck aka Kapitalismus. Das hört sich jetzt lustig an, weil sich gerade die ganze Aprèsgarde um PEGIDA, Pirinçci, Putin, Le Pen, AfD und alle anderen dieser Art das immer fälschlicherweise für sich reklamieren, aber Abweichung wird in Deutschland nicht so sehr goutiert. Nein, sie wird sogar bestraft.

Und wie zeigt sich das?
Jegliche individuellen, gutmenschlichen Haltungen kosten sehr viel Kraft und werden einem erschwert. Sogar einfach mal nur "Nein" zu sagen und das auch noch zu begründen, ist anstrengend. Und in einem Klima, in dem "Feministin", "Gutmensch" und andere hervorragende Ideen als lächerlich gelten, noch viel schwerer. Ich meine nicht, dass Abweichung an sich schon ein Wert ist, gerade diese Pseudorebellen inszenieren sich ja immer als total mutig, dabei hängen sie nur völlig rückständigen Ideen an.

David Häußer wurde in Stuttgart geboren. Er ist Herausgeber des Online-Magazins FICKO und veröffentlicht unter seinem Künstlernamen form auf dem Berliner Label Springstoff. Häußer lebt und arbeitet aktuell in Mainz

Website: http://www.fifaform.de/

Zurück zum sogenannten „Genderwahn“: Was sind Ihrer Meinung nach aktuell die größten Probleme in dieser Debatte?
Vor allem, dass es immer noch heißt: "Hier gibt es kein Problem." Wenn der ehemalige Berliner Staatsanwalt Hansjürgen Karge im ZDF meint, er würde seiner Tochter bei einer Vergewaltigung von einer Anzeige abraten, was sagt das über das Land? Das Problem ist meines Erachtens, dass sehr viele immer noch kein Problem sehen.

Und dann kommen jetzt noch die Maskulinisten-Trottel und wollen die Uhr noch weiter zurückdrehen. Die rumheulenden Flachpfeifen, die sich bedroht fühlen, wenn sie nicht mehr die Einzigen sein sollen, die etwas zu sagen haben.

Wie erklären Sie sich das Aufkochen der aktuellen Debatte um die "Verweichlichung der Männer"?

Diese Menschen fühlen sich halt gerade ermutigt. In mindestens ganz Europa erhebt sich der Irrsinn momentan im fröhlichen Reigen. Was meines Erachtens am meisten mit der Überforderung durch die Moderne zu tun hat: Wer sich in der Welt nicht zurecht findet, will wieder zurück in „die gute alte Zeit“. Ein totales Wunschdenken, denn natürlich war es früher oft noch viel schlimmer. Googlet mal Aghet, OAS oder die Genozide an den Herero, Nama, Tscherkessen und viele mehr.

Individualismus wird ja oft als Schimpfwort benutzt, als großer Verfall und Mimimi. Wer weiß, wann ich mal totgeschlagen worden wäre, weil ich Nagellack trage oder eine Meinung auch gern mal behalte trotz Drohungen durch die örtliche Junge Union? Ich sag das in dem Track so: "Für die einen ist es die Befreiung, für die anderen die Kapitulation, wenn plötzlich alle selbst für sich entscheiden". Man darf halt heute viel mehr selbst entscheiden. Man muss das aber auch. Und das ist natürlich auch hin und wieder anstrengend.

Also fühlen sich diese Menschen durch Ihre Handlungsfreiheit überfordert?
Entscheidungsfreiheit ist für manche nichts, die wollen dann alles lieber von einem starken Führer vorgekaut kriegen. Da sich aber aus vielen Gründen u.a. mit Angst auch Geld verdienen lässt, kommt zu jedem durchdrehenden Arschloch gleich ein zweites mit Kamera hinzu und füttert damit seinen Youtube-Channel. An dieser Stelle ein Shoutout an Russia Today! Oder erinnert sich noch jemand an den jämmerlichen Versuch der BILD, auf den Solizug für Refugees aufzuspringen? Mittlerweile hetzen sie wieder wie üblich, das können sie dann doch besser.

Sie zeichnen ein düsteres Bild.
Ich will nicht nur schimpfen, denn ich habe genügend Gründe zur Hoffnung. Die werden sich aber nur erfüllen, wenn mehr Leute mal ihrer verdammten Verpflichtung nachgehen würden, die Augen aufzumachen und Farbe zu bekennen. Einmischen, kommunizieren! Ich weiß, dass nicht alles super ist. Überhaupt nicht. Aber wenn wieder nur die Antifa und die üblichen politisierten Kreise sich gegen diese Vergiftungen zur Wehr setzen, wird es noch viel schlimmer werden. Rückständige Ideen müssen bekämpft werden, heute mehr als noch vor einem Jahr, denn es ist faktisch schlimmer. Es gibt dazu keine Alternative.

Kommen wir zurück zur Musik: Zuweilen wird Rap gebraucht, um homophobe Inhalte zu vermitteln. In letzter Zeit scheint sich das etwas geändert zu haben.
Zum Beispiel?

Ich denke da vor allem an das Plattencover von Bass Sultan Hengzts letztem Album, auf welchem zwei sich küssende Männer zu sehen waren. Oder auch das Musikvideo des Liedes „Verliebt“ der Antilopen Gang, in dem sich Danger Dan und Monchi von Feine Sahne Fisch Filet küssten.

Naja, BSH nehme ich es nicht so ganz ab, dass das ein Statement gegen Homophobie war, dazu war der Kontext mir zu wischi-waschi. Danger Dan ist hingegen sehr glaubwürdig (erotisches Bild von ihm mit mir hier einfügen. Ich habe mehrere aus verschiedenen Saunen). Auf Homophobie bezogen muss man sagen, dass sich etwas tut und Fortschritte zu verzeichnen sind. Ich glaube aber auch, dass das damit zu tun hat, dass es meist um Männer geht. Und die sind ja wichtig! Sexismus wurde zumindest noch nicht so umfangreich thematisiert.

Ist das vielleicht nur eine Phase oder zeigt sich da echte Veränderung?

Die Polarisierung ist zumindest zunehmend zu merken. Ambivalenz ist da ja noch ein Euphemismus. Die, für die der Individualismus eine Befreiung ist, befreien sich. Und das sind sehr viele. Die, die ihn als Belastung sehen, radikalisieren sich. Wohin das führen wird, wird sich zeigen. Wie gesagt: Auf Homophobie bezogen muss man sagen, dass sich etwas tut und Fortschritte zu verzeichnen sind. Wie eben auch einige Rückschritte, die hoffentlich nicht zu sehr um sich greifen. Wie das halt so immer ist mit den Menschen. Auf jeden Durchbruch folgt ein Backlash. Damit es wirklich strukturell vorangeht, müssen noch mehr Leute etwas tun. Und die, die wissen, was zu tun ist, mit denen reden, die gern wissen würden, was zu tun wäre. Es bleibt spannend!

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

Jan Rebuschat

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