"Du bist so normal!“

Gesellschaft Die gehörlose Barrierefreiheitsaktivistin Julia Probst im Gespräch über die alltäglichen Barrieren und Diskriminierungen im Leben behinderter Menschen in Deutschland

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https://pbs.twimg.com/profile_images/476020239897870337/5kSPXPya.jpegFrau Probst, aktuell wird viel über Monica Lierhaus’ Aussagen im Rahmen eines Interviews gesprochen. Auch Sie haben Kritik geübt. Worauf bezieht sich Ihre Kritik?
Die Art, wie Monica Lierhaus über ihr Leben mit einer Behinderung spricht, ist sehr schädlich für das Bild von Menschen mit Behinderungen. Lierhaus zeichnet hier das Bild, dass Menschen mit Behinderungen alle am liebsten tot als behindert wären und wertet somit das Leben von Menschen mit Behinderungen ab.

Manche meinen, dass Frau Lierhaus lediglich Ihre Meinung gesagt hätte.
Kein Kritiker nimmt ihr das Recht auf eine eigene Meinung, aber man muss schon sagen dürfen, dass die Art, wie sie ihr Leben in den Medien darstellt, nicht nur ihre Angelegenheit ist, sondern auch andere Menschen mit Behinderungen betrifft. Problematisch ist, dass Lierhaus neben Samuel Koch als "Kronzeugin" für Leben mit Behinderung angesehen wird und sie als öffentliche Person eine sehr viel größere Reichweite besitzt als Behindertenverbände und Aktivisten zusammen. Damit sollte sie verantwortungsvoll umgehen, denn sonst macht sie die ganzen Aufklärungskampagnen der Menschen mit Behinderungen zunichte.
Ich finde es im übrigen auch erstaunlich, dass in der ganzen Debatte bisher verschwiegen wird, dass Lierhaus am Donnertag bei "Donnerstalk" von Hayali mit ihrem Therapiehund zu Gast sein wird. Lierhaus präsentiert sich hier ganz klar als Mensch mit Behinderung. Die Öffentlichkeit sieht Lierhaus nun als Mensch mit Behinderung. Das kann man nicht mehr trennen.

Wie werden denn Behinderte in der Gesellschaft dargestellt?
Ich erlebe es immer wieder, dass Rollstuhlfahrer im Spielfilmen im Fernsehen als suizidal dargestellt werden, woran man gut erkennen kann, dass Lierhaus dieses Bild unkritisch aufgreift und nicht reflektiert, wieviel sie davon übernimmt, sondern einfach weiter reproduziert, weil diese "Mitleidsansicht" auf Menschen mit Behinderung salonfähig in unserer Gesellschaft ist.

Manche meinen, Sie hätten kein Verständnis für Lierhaus. Stimmt das?
Ich habe Verständnis dafür, dass Frau Lierhaus ihrem "alten" Leben hinterher trauert, denn sie kennt ja ein "Vorher/Nachher". Ich würde mich sehr für Frau Lierhaus freuen, wenn Sie darauf schaut: "Was kann ich??" statt: "Ich kann das nicht mehr!“.

Sie schrieben, dass der Fall Lierhaus immer noch deutlich zeige, dass Nichtbehinderte am kräftigsten applaudierten, wenn “Lieber tot als behindert“ gesagt werde. Das hört sich sehr drastisch an. Können Sie das näher ausführen?
Es gibt in der Gesellschaft immer noch das Bestreben, dass es Menschen mit Behinderungen möglichst gar nicht geben soll, weil sie nur Kosten verursachen. Und wenn es doch Menschen mit Behinderungen gibt, dann hält man sie so klein wie möglich im Bezug auf deren Menschenrechte und spricht ihnen ab, dass auch ihr Leben lebenswert sein kann.
Behinderung ist eine normale Variante des menschlichen Lebens und kein Fehler im System.

Woran zeigt sich diese Geisteshaltung konkret?
Es macht sich immer wieder in Deutschland bemerkbar, dass es gesellschaftlich immer noch nicht als akzeptabel angesehen wird, wenn Mütter sich für ihr Kind entscheiden, wenn es eine Behinderung hat. Häufig bekommen Mütter mit einem behinderten Kind zu hören: "Hat man das denn nicht in der Schwangerschaft festgestellt?“. Der Tenor ist ganz klar: "Warum hast du nicht abgetrieben?" Das hat auch etwas mit der national-sozialistischen Vergangenheit Deutschlands zu tun, denn unter Hitler gab es ein gigantisches Euthanasieprogramm an Menschen mit Behinderungen.
Das Dossier Wer darf leben? in DIE ZEIT über die Entscheidung zu einem Kind mit Behinderung hat ja auch hohe Wellen geschlagen. Und 9 von 10 schwangeren Frauen, bei deren Kindern die Diagnose "Down-Syndrom" festgestellt wird, treiben ab!

Wie sieht die Diskriminierung behinderter Menschen im Alltag denn aus?
Menschen mit Behinderungen werden tagtäglich mit der Abwertung ihres eigenen Lebens konfrontiert. Man bekommt offen gesagt, "Wenn ich in Deiner Situation wäre, wollte ich so nicht leben". Das ist nicht nur anmaßend sondern auch gefährlich. Da urteilen andere über den Lebenswert einer Person. Behinderungen aller Art gehören aber zum Leben dazu.

Aber zeigen die meisten Menschen nicht einfach Mitleid?
Manche reagieren mit Mitleid. Dabei ist Mitleid manchmal sehr abwertend und herablassend, im Gegensatz zu Empathie. Die Emanzipation von Menschen mit Behinderungen wird so lange nicht passieren, so lange immer alle auf uns mitleidig herabschauen, anstatt uns auf gleicher Augenhöhe zu begegnen.

Wie erleben Sie, als gehörloser Mensch, Ihren Alltag mit nicht behinderten Menschen?
Sie glauben gar nicht, wie oft ich schon gehört habe von Nichtbehinderten: "Du bist so normal!" Was ist eigentlich normal? An dieser Aussage sieht man schon, wie wenig Inklusion hierzulande umgesetzt wird. Wenn ich neue Leute kennenlerne, ist es klar, dass die zuerst erfahren, dass ich gehörlos bin. Sie glauben gar nicht, wie viele Leute das unzutreffende Wort "taubstumm" auf Gehörlose verwenden und dann ganz überrascht sind, wenn sie merken, dass ich sprechen kann. Dann kommt immer: "Aber wieso kannst du sprechen? Im Fernsehen habe ich im Film einen Gehörlosen gesehen und der konnte nicht sprechen!“

Und auf welche Barrieren stoßen Sie?
Das fängt bei baulichen Barrieren an und hört bei fehlenden Untertiteln im Fernsehen nicht auf.
Wenn ich zum Beispiel auf eine Veranstaltung gehen will, muss ich als Gehörlose immer beim Veranstalter nachfragen, ob an Gebärdensprachdolmetscher/Schriftdolmetscher gedacht wurde. Das bedeutet auch für mich, dass die meisten Veranstaltungshinweise in Zeitungen nutzlos sind, denn Gebärdensprachdolmetscher muss man aufgrund des Mangels an Gebärdensprachdolmetscher mindestens 4-6 Wochen vor dem Termin bestellen. Das ist zum Beispiel eine Barriere für mich in meinem Leben, die man ganz simpel umgehen könnte, wenn vorgeschrieben wäre, dass Veranstaltungen aller Art barrierefrei und in barrierefreien Räumen ausgerichtet werden müssen. Aber auch die Einstellung vieler Menschen ist eine Barriere für Menschen mit Behinderungen.

Aber wie erklären sich diese Einstellung?
Viele Vorurteile über Menschen mit Behinderungen hängen ganz klar damit zusammen, dass die Medien, in denen vor allem nicht behinderte Menschen arbeiten, das Bild von uns Menschen mit Behinderungen bestimmen. Die Medien haben eine besondere Verantwortung, auch sie müssen raus aus dieser "Mitleidschiene" in der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung.

Was muss sich ändern, damit man dieses Problem löst?
Die Lösung ist sicher nicht, behinderte Menschen zu operieren, sondern ihnen zu helfen, die Behinderung anzunehmen und damit zu leben. Das bedeutet zum Beispiel ein Recht auf Assistenz und optimale Unterstützungsangebote für behinderte Menschen und ihre Angehörigen. Menschen mit Behinderungen müssen zu ihrem Recht kommen, inklusiv in der Gesellschaft zu leben.

Also liegt es auch an den staatlichen Stellen, mehr für die Inklusion zu unternehmen?
Ja, doch leider kommt der Staat nicht in diesem Maße dieser dringend benötigten Unterstützung nach, sondern es wird immer noch gefordert, dass Menschen mit Behinderung sich an die Gesellschaft anpassen. Nach dem Motto: "Wir sind die Mehrheit, du hast dich uns unterzuordnen.“ Deutschland ist vor dem UN-Ratsauschuss für Menschenrechte im März 2015 heftig dafür gerügt worden, dass hierzulande vielfach die Menschenrechte der Menschen mit Behinderung verletzt werden, obwohl Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat.
Dabei wird vergessen, dass eine inklusive und barrierefreie Gesellschaft der ganzen Gesellschaft zugute kommt - beispielsweise können Rampen und Aufzüge für Rollstuhlfahrer von Eltern mit Kinderwagen, Fahrradfahrern, Gehbehinderten, Kofferträgern usw. genutzt werde.

Was mir persönlich wirklich auf dem Herzen brennt: In Deutschland gibt es nach wie vor keinen barrierefreien Notruf. Ich kann nicht die Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen anfordern, wenn ich deren Hilfe brauchen würde. Es ist bisher so, dass ich mir "gefälligst" ein Dokument im Internet herunterzuladen habe, das deponieren soll und dann im Notfall das ankreuzen soll und dann per Fax wegschicken soll. Wer hat aber heute noch ein Faxgerät? Und was, wenn mein Haus brennt oder ein Einbrecher im Haus ist? Die Bundesregierung arbeitet laut Aussage vom Regierungssprecher Herrn Seibert seit 2009 an der Lösung des Problems! Und die Bundesregierung bevorzugt eine Notruf-App, welche nicht mal barrierefrei ist!

Das ist erschreckend.
Ja, aber nur eines von vielen Beispielen. Wussten Sie zum Beispiel, dass schwerstbehinderte Menschen nicht mehr als 2600 € auf dem Konto haben, wenn sie auf Assistenz angewiesen sind? Alles über 2600 € pfändet der Staat vom Konto weg. Im Klartext: Wenn du mehr als 2600 € verdienst, musst du die Assistenz selbst zahlen. Vollbeschäftigte Menschen mit Behinderungen zahlen aber auch die gleichen Abgaben und Steuern. Darüber hinaus zieht der Staat mit dieser 2600 €-Regelung 40% vom Einkommen ab. Das bedeutet, dass schwerstbehinderte Menschen kein Recht auf Vermögen und Sparen haben und arm gehalten werden. Es ist auch so, dass dieses Gesetz ein Eheverbot für schwerstbehinderte Menschen ist, da so der Ehepartner mit in die Armut einheiratet, da sein Vermögen mitgezählt wird.

Da sind nur einige der vielen schweren Situationen, denen Menschen mit Behinderungen von Seiten des Staates ausgesetzt werden.

Behindertenaktivisten wie der Berliner Psychologe Michael Zander bemängeln, dass zwar viel von Inklusion gesprochen wird, aber in Wirklichkeit wenig geschehe. Würden Sie dieser Kritik zustimmen?
Ja. Es gibt diverse "Bekenntnisse" zur Inklusion, aber wenn man genau hinschaut, sind es nur Lippenbekenntnisse seitens vieler Seiten. Ich würde mich da ja freuen, wenn man endlich mal aufhört darüber zu reden, sondern einfach mal umsetzt! Wir haben schon sehr viele Jahre in Deutschland in diesem Punkt verschlafen.

Welche Belange behinderter Menschen müssen Ihrer Ansicht nach schnellstmöglich gesellschaftlich umgesetzt bzw. diskutiert werden?
Es muss ein Umdenken weg vom Defizit-orientierten, medizinischen Modell hin zum sozialen Modell von Behinderung geben. Im Endeffekt sind wir alle an mindestens einem Punkt unseres Lebens behindert und sei es die Behinderung, die sich Altern nennt. Das soziale Modell von Behinderung ermöglicht es den Menschen, ihre Behinderung als normalen Teil ihrer selbst zu erleben und ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Nicht trotz der Behinderung, sondern mit.

An dieser Stelle möchte ich gerne dafür plädieren, dass zum Beispiel das Bundesteilhabegesetz noch vor der nächsten Legislaturperiode im Bundestag kommt und es dann auch ein wirkliches Bundesteilhabegesetz ist für alle Menschen mit Behinderungen und nicht nur ein schmallippiges Lippenbekenntnis.

Vielen Dank für das Gespräch!

Foto: @barthez

Zur Person: Julia Probst wurde 1981 in Neu-Ulm geboren. Mit ihrem Blog http://meinaugenschmaus.blogspot.de/ möchte Probst nicht-behinderten Menschen einen Einblick in das Leben behinderter Menschen geben und auf bestehende Barrieren aufmerksam machen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jan Rebuschat

Geboren 1982, zweifacher Familienvater. Volljurist, seit 2011 journalistisch tätig.

Jan Rebuschat

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